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Der 26. Stock

Titel: Der 26. Stock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Enrique Cortés
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Jemand kratzte von draußen auf dem Flur an der Plastikoberfläche der Badtür. Isabel reagierte auf der Stelle,
     ohne nachzudenken. Anstatt ihre Freundin auf den Boden zu legen, schleppte sie sie in eine der Toilettenkabinen und legte
     den Riegel vor. Sie war sicher, dass sie entdeckt werden würden. Der Spalt unter der Tür war so breit, dass man die Füße leicht
     erkennen konnte. Sie selbst hätte sich auf die Toilettenschüssel stellen können, aber sie würde es niemals schaffen, auch
     Vera hochzuhieven.
    Sie gab keinen Mucks mehr von sich. Ihre einzige Hoffnung war, dass, wer auch immer hereinkam, nicht nach unten schauen würde.
     Isabel lauschte. Veras Körper drückte ihr schwer auf die Knie. Dann begann Vera wieder zu murmeln, doch Isabel presste ihr
     die Hand auf den Mund, und sie verstummte. Etwas mehr als eine Woche zuvor hatten sie sich in einer ganz ähnlichen Lage befunden,
     nur umgekehrt. Isabel war erschrocken, als Vera sie in ihr Versteck gezogen hatte. Damals war freilich Vera diejenige gewesen,
     die ihr den Mund zugehalten hatte, damit sie nicht laut schrie.
    Die Tür ging auf, begleitet von dem unverwechselbaren Geräusch. Isabel hörte ein paar leichte Schritte. Das konnte nur eine
     einzelne Person sein. Die Schritte kamen näher und blieben schließlich vor der Kabine stehen. Sie waren aufgespürt worden.
     Jetzt war nichts mehr zu machen.
    »Tun Sie uns nichts«, flehte Isabel mit leiser, verschreckter Stimme. Isabel sah auf den Boden. Ein fahler Schatten fiel auf
     die Fliesen. Da musste er stehen, auf der anderen Seite der Tür. Sie hielt den Atem an. Dann zog sie Vera an sich und schloss
     die Augen.
    Einmal mehr knirschte eine Tür in den Angeln und begann sich zu öffnen. Isabel riss die Augen auf, bereit, sich dem zu stellen,
     was da kam. Die grau lackierte Tür vor ihr war immer noch zu. Sie hörte zwei weitere Schritte genau zu ihrer Rechten. Erhatte die Kabine nebenan geöffnet, nicht die ihre. Ein weiches Klopfen ertönte, dann war es still. Isabel wartete und zitterte
     mit der fiebernden Vera mit. Immer noch nichts. Er war doch da, worauf wartete er? Wenn er gekommen war, um sie zu holen,
     warum machte er dem Ganzen nicht endlich ein Ende? Je mehr Sekunden verstrichen, desto neugieriger wurde Isabel. Sie musste
     erfahren, was da los war.
    »Hallo?«
    Vorsichtig ließ sie Vera auf die Schüssel sinken. Den Mut, die Kabine zu verlassen, hatte sie nicht. Sie ging in dem engen
     Raum auf die Knie und bückte sich – und machte eine überraschende Feststellung. Jemand stand nebenan in der Kabine. Jemand
     mit kleinen roten Schühchen und rosa Socken, die unter dem Saum eines weißen Kleids hervorstanden. Die Schuhe drehten sich
     und zeigten nun zur Tür.
    »Hallo? Wer bist denn du?« Isabel hörte, wie die Türe aufging, und sprang auf. »Geh nicht weg!«
    Sie trat aus der Kabine. Die Badtür fiel schon wieder ins Schloss. Isabel warf einen Blick auf den Flur hinaus. Niemand da.
     Wer auch immer die Kleine gewesen sein mochte, sie war verschwunden. Isabel kehrte zu Vera zurück, streckte sie neben dem
     Waschbecken auf den kühlen Marmorfliesen aus und legte ihr die Hand auf die Stirn. Das Fieber schien nicht weiter angestiegen
     zu sein.
    Auf einmal kam ihr ein Gedanke. Sie stand auf und trat vor die eben besetzte Kabine. Dann öffnete sie die Tür. Ja, sie hatte
     richtig vermutet. Da war niemand gekommen, um sich zwei Frauen in ihrem Versteck zu schnappen, sondern um ihnen etwas zu übergeben.
     Isabel bekam weiche Knie. Vor ihr stand die Kamera, die Carlos ihrem Bruder zum Geburtstag geschenkt hatte.

45
    Zac wurde klar, dass der Augenblick gekommen war. Die lauten Sirenen der Feuerwehrfahrzeuge und Krankenwagen kamen immer näher und mischten
     sich mit dem monotonen Piepen des Feuermelders in der Tiefgarage. Über ihm flohen noch immer Menschen aus dem Gebäude. Isabel   … vielleicht würde sie es nicht rechtzeitig nach draußen schaffen. Jetzt oder nie. Er holte tief Luft, legte sich den Riemen
     der Werkzeugkiste über die Schulter und stieg aus dem Kanalloch.
    »He, Sie!«, schrie einer der Wachleute an der Schranke. »Was machen Sie da?«
    Er antwortete nicht. Er wusste, wenn er sich darauf einließ, würde er überhaupt keine Chance haben. Also rannte er auf die
     Feuertreppe zu, als hätte er nichts gehört, und stürmte die Stufen hinauf. Niemand würde seinen Hals riskieren, indem er ihm
     jetzt nach oben folgte. Er legte mehrere Treppenabsätze zurück

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