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Der 26. Stock

Titel: Der 26. Stock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Enrique Cortés
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durchstach ihre Genitalien. Welche Wirkung würde das sexuell stimulierende Mittel auf
     dieses Versuchskaninchen haben? Noch ein Herzschlag, und Hunger nagte an ihr, während von Söldnern eskortierte Ausländer ganze
     Lastzüge voller Erdöl abtransportierten, das sie dem Land ihrer Ahnen abgerungen hatten. Ein weiteres Pochen zwischenihren Händen, und sie war ein dunkelhäutiges Mädchen, das von einem grinsenden Geschäftsmann mit Alkoholfahne in ein Zimmer
     gezerrt wurde. In einer unbekannten Sprache fragte er:
    »Bist du unschuldig?«
    Der Schmerz wuchs von Sekunde zu Sekunde, er wurde immer stärker, durchfloss ihre Adern und ließ ihre Nervenenden platzen.
    »Hältst du dich immer noch für unschuldig?«
    Sie schlug die Augen auf und sah die Gesichter all derer, die durch ihre Taten hatten leiden müssen. Da stürzte ohne Vorwarnung
     die Schuld auf sie herab wie ein Grabstein, die Schuld an Waffenlieferungen, an Kugeln, an heißem Metall, das die Haut von
     Männern, Frauen, Kindern und Tieren wie Butter durchtrennte. Vera schrie nicht mehr. Ihr Gehirn blieb einfach stehen. Sie
     war am Ende. In ihren Händen hörte ihr Herz auf zu schlagen.
     
    »Vera, antworte mir!« Isabel legte zwei Finger an den Hals ihrer Freundin. Der Puls war sehr schwach. »Komm, du musst aufwachen.«
    Es war ganz unvermittelt passiert. »Das bin ich«, hatte sie mit einem Blick auf das Bild gesagt und war dann bewusstlos niedergesunken.
     Isabel war sofort zu ihr gestürzt, hatte aber nicht verhindern können, dass Veras Kopf mit einem dumpfen Knall auf dem Teppich
     aufschlug. Erst blieb sie einige Minuten lang reglos liegen, dann fing sie an, sich zu winden und Schreie auszustoßen. Diese
     Zustände wechselten sich mehrmals ab, bis Veras letzte Zuckungen Isabel befürchten ließen, dass sie ihre Freundin verlieren
     würde. Sie schien einen schrecklichen epileptischen Anfall zu erleiden, heulte und schlug wild um sich. Hätte Isabel ihr nicht
     ein Taschentuch in den Mund geschoben, sie hätte sich die Zunge abgebissen. Während sie sich mühte, Vera von der Wand wegzuziehen,
     damit sie sich nicht stieß, überlegte sie, ob der Anfall wohl mit der Einnahme irgendeiner Droge zusammenhängenkonnte. Die Worte, die das letzte Aufbäumen begleiteten, veranlassten sie, diesen Gedanken zu verwerfen.
    »Ich hatte keine Schuld.«
    Es lag an dem Ort. Irgendetwas im 27.   Stockwerk hatte den Aufzug zum Verschwinden gebracht und das Bild mit der Waage entstehen lassen. Dieses Etwas musste es auch
     sein, was Veras Schmerzen verursachte. Isabel stand auf. Die Stirn ihrer Freundin glühte, und der Schweiß rann ihr in Bächen
     am Körper herunter. Sie knöpfte ihr die beiden obersten Blusenknöpfe auf. Das Beste wäre jetzt, ihr mit ein wenig Wasser Abkühlung
     zu verschaffen. Isabel erwog, ins Bad zu laufen, mochte ihre Freundin jedoch nicht alleine lassen. Sie sah sich nach einer
     anderen Lösung um. Sie zog einen Drehstuhl näher, und mit Mühe gelang es ihr, Vera daraufzusetzen. Wieder überprüfte sie den
     Puls. Er war nicht stärker geworden. Vera hatte aufgehört, vor sich hin zu murmeln, aber sie lebte noch.
    Vorsichtig schob sie den Drehstuhl über den Korridor in Richtung Bad. Auch hier sah sie auf dem Teppich die silbrige, leicht
     klebrige Substanz. Als ihre Finger die Vinyltür berührten, knarzte es hinter ihr. Isabel fuhr herum. »Wer ist da?«, hätte
     sie am liebsten gerufen, aber etwas sagte ihr, dass das keine gute Idee gewesen wäre. Das Geräusch wiederholte sich, diesmal
     war es allerdings eher ein Schaben. Es klang fern. Bestimmt kam es von hinter der Wand, wo sich einmal der Aufzugschacht befunden
     hatte. Sie ging ins Bad, sah sich aber immer wieder um. Strahlendes elektrisches Licht fiel auf blankpolierte Marmorkacheln
     und gab dem Raum ein völlig steriles Aussehen. Isabel goss Vera Wasser über die Schläfen und küsste sie auf die Stirn. Vera
     bibberte, und ihre Zähne klapperten. Sie hatte Fieber und fror jetzt.
    »Ich will nicht sterben.«
    Als Isabel hörte, wie Vera, fast ohne die Lippen zu bewegen, diese vier Wörter sagte, lief es ihr eiskalt den Rücken herunter.
     Sie benetzte ihr noch einmal das Gesicht mit Wasser. Dann stapelte sie einige Papierhandtücher auf dem Boden zu einem improvisierten
     Kissen, fasste Vera unter den Achseln und zog sievom Stuhl herunter. Als sie sie gerade sanft ablegen wollte, hörte sie es erneut. Diesmal gelang es ihr, die Quelle des Geräuschs
     auszumachen.

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