Der 26. Stock
Der Wunsch, sich zu rechtfertigen, überkam sie, obwohl sie nach den beiden Erfahrungen zittrig und erschöpft war. »Das
waren doch keine Menschen.«
Das schrille Gelächter, das auf ihre Worte folgte, jagte ihr eine Gänsehaut über den ganzen Körper. Auf die goldene Waagschale
fiel Licht. Vera hob den Blick. Auf dem Goldring saß noch immer ein Falke, aber es schien nicht derselbe zu sein wie zuvor.
Seine Schwingen waren schmaler und länger, sein Schnabel hatte keine einheitliche Farbe, und zahlreiche seiner Federn waren
gebrochen und kräuselten sich an den Enden. Diesmal machte der Falke keinerlei Anstalten, sich zu putzen. In sich zusammengesunken
spähte er auf die Schale, in der seine Feder lag. Vera betrachtete sie. Die Feder war unverändert.
»Tiere, die im Auftrag der Kosmetiksparte des Unternehmens missbraucht und getötet wurden, abgeholzte Wälder, die Neubauten
weichen mussten. Leid in der Natur, verschuldet von deinem Unternehmen und damit auch von dir.« Die Stimme kam aus allen Richtungen
gleichzeitig. »Diese Schuld wiegt schwer, mein Kind.«
Die Ketten an der Waage verursachten ein unangenehmesRasseln. Veras Herz pochte in ihren Händen. Ein Fauchen erfüllte die Luft, und Vera stockte das Blut. Das Geräusch kam von
unterhalb ihrer Waagschale. Wieder hatte Isabel recht gehabt. Da unten hockte das Untier, das ihre Seele vertilgen würde,
sobald ihr Richter das für gut befand.
»Das waren doch keine Menschen«, wiederholte Vera.
»Aber es war Schmerz.«
Vera merkte, dass die Waage sich geneigt hatte, kaum spürbar, aber sie war sich ganz sicher. Angst ergriff sie. Sie wollte
nicht fallen, sie wollte nicht, dass ihr Herz schwerer wog als die Feder, sie würde das nicht zulassen.
»Ich habe das alles nicht absichtlich getan!«, schrie sie. »Ich … ich … Ja, ich habe gewusst, dass vieles, was die Firma tat, nicht in Ordnung war, aber dieses Leid … daran war ich doch nicht schuld!«
Das Licht verschwand. Wieder ertönte die Stimme, doch diesmal war sie nur ein Murmeln in ihrem Kopf. Sie sprach langsam, ohne
auf Veras Geschrei einzugehen.
»Hier wird über dich geurteilt, Vera. Dazu bin ich da, um über euch zu richten. Ich will nicht über die Schuld reden, die
du schon selbst erfasst hast, ich will, dass du all das Leid erfährst, von dem du nichts wissen willst, das du aber mitverursacht
hast. Mach dich zum Lernen bereit.«
Das Gefühl traf sie wie ein Geschoss. In schwindelerregendem Tempo jagten die Bilder durch ihren Kopf.
Wie geht’s deiner Frau?
Wir haben uns entschlossen abzutreiben. Gestern habe ich erfahren, dass ich meinen Job verliere, und da reicht uns das Geld
nicht mehr.
Aber es lief doch alles gut, oder?
Ja, aber die Firma … Die haben eine Restrukturierung geplant oder so.
Es waren kurze Szenen, Bruchstücke von Geschichten, die in Veras Kopf aufschlugen wie Werbespots.
Sie fragte sich, was wohl zwei Paar von diesen Sportschuhen kosteten. Niemand hatte ihr gesagt, dass ihre Familie von dem
Geld, das irgendein junger Kerl am anderen Ende der Welt dafür bezahlte, ein Jahr lang hätte leben können. Sonst wäre ihr
das Leben wohl völlig sinnlos vorgekommen. Sie hätte sich an einem Deckenbalken aufgehängt, und die Ratten, von denen es in
der alten Fabrik in dem Vorort, wo sie sechzig Stunden pro Woche arbeitete, nur so wimmelte, hätten ihre Leiche zerfressen.
Vera hatte sich daran gewöhnt, dieses Leid zu verursachen.
»Und jetzt die nächste Frage für unseren Kandidaten«, rief der attraktive Moderator. »Tantal ist ein wichtiger Bestandteil
für die Herstellung von Mobiltelefonen und anderen Hightech-Produkten in internationalen Konzernen. Über achtzig Prozent dieses
Metalls wird in Minen abgebaut, die im Kongo liegen. Nun unsere Tausend-Punkte-Frage: Können Sie uns sagen, wer die Guerilla
finanziert, die den illegalen Tantal-Handel kontrolliert und in nur zehn Jahren den Verlust von über einer Million Menschenleben
verursacht hat?«
Der Kandidat zögerte kurz.
»Die internationalen Konzerne?«
»Tausend Punkte für unseren Kandidaten und dazu ein Handy von unserem Sponsor!«
Sie spürte, wie sich der Schmerz in ihren Eingeweiden ausbreitete. Tiefes Leid spülte über sie hinweg. Sie hatte das Geschehene
geschehen lassen. Aber lief es nicht immer so? Zum ersten Mal begriff sie, dass dieser Gedanke sie nicht ihrer Schuld enthob.
Ein Herzschlag, und eine riesige Nadel
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