Der 26. Stock
Streichholzschachtel aus der Hosentasche und schüttelte sie. Dann ließ er den Blick an der Decke des Raums entlanggleiten.
Irgendwo musste da eine kleine Kamera sein, die ihn beobachtete. Es ließ ihn kalt. Wenn sie begriffen, was er hier vorhatte,
würde es schon zu spät sein. Kein Wachmann, der halbwegs bei Verstand war, würde sich heraufwagen, um das Unglück abzuwenden.
Um den Feuermelder hatte er sich bereits gekümmert. Der Alarm würde zwar ausgelöst werden, so dass die Feuerwehr kam, aber
mit den nötigen Minuten Verspätung würde nichts mehr zu retten sein. Das Schicksal hatte dafür gesorgt, dass es nicht regnete,
und es herrschte auch kein so starker Wind,dass die Flammen auf die umstehenden Bauten hätten übergreifen können. Und die oberen Etagen? Dort würde kein Alarm ausgelöst
werden. Alles war perfekt durchgeplant. Er zog eine Zigarette aus der Brusttasche seines Overalls und steckte sie an. Er zog
ein paarmal daran, kniff dabei ein Auge zu und nahm sein Ziel ins Visier. Dann warf er.
Die halb aufgerauchte Zigarette drehte sich mehrfach in der Luft und fiel dann in einen der Behälter. Die darin enthaltenen
Ethylenoxiddämpfe reagierten sofort mit der Glut der Zigarette, und eine Stichflamme schoss empor. Der alte Mann stand auf
und schüttelte die Beine seines Overalls aus, strahlend wie ein Schüler, der in der Schlussminute eines entscheidenden Basketballspiels
gegen jede Erwartung den siegbringenden Korb für seine Mannschaft erzielt hat. Er lehnte einen Stuhl gegen die Tür, schob
sich durch den Spalt und zog sie dann ganz zu. Er wollte nicht riskieren, dass jemand das Feuer von draußen sah und seine
Mühe zunichtemachte. Er ging den Korridor entlang. Er wusste genau, wie viele Sekunden ihm blieben, bevor die Flammen den
zweiten Behälter erreicht haben würden, der eine weit gängigere Säure enthielt: Essig. Die chemische Reaktion würde nicht
auf sich warten lassen. Die vermeintlichen Desinfektionsmittel würden explodieren und das ganze Büro mit entzündlicher Flüssigkeit
vollspritzen. Von dort aus würden sich die Flammen rasch ausbreiten und die übrigen Behälter erreichen, die über die oberen
Etagen verteilt standen. Er hätte dieses Spektakel nur zu gerne von draußen gesehen. Bestimmt war das ein prachtvoller Anblick.
Aber das ging leider nicht. Noch hatte er nicht alles erledigt, was man ihm aufgetragen hatte. Als er die Tür zur Feuertreppe
öffnete, hörte er die erste Explosion, und ein kräftiger Schwall heiße Luft traf ihn im Rücken. Der Turm stand in Flammen.
44
»Das ist das Gericht des Osiris«, sagte Isabel und deutete dabei auf das Bild.
»Und was soll das sein?«, fragte Vera zurück.
Ein Schweißtropfen rann ihr die Stirn herab. Die beiden Frauen konnten es nicht fassen, wie die Aufzugtür sich in Nichts aufgelöst
hatte. Sie wussten, dass etwas Schlimmes unmittelbar bevorstand.
»Das kommt aus der ägyptischen Mythologie«, erklärte Isabel und dachte an die fernen Gespräche zurück, in denen sie und Teo
sich ihre Ägyptenreise ausgemalt hatten. Sie strich mit dem Finger über einen kleinen Gegenstand, den die dargestellte Figur
in der Hand hielt. »Wenn jemand starb, legten die Götter sein Herz auf eine dieser Waagschalen. Auf die andere kam die Feder
von Maat, der Göttin der Gerechtigkeit und Wahrheit. Wenn die Waage sich zur Seite der Feder hinneigt, wird der Mythologie
zufolge die Seele des Verstorbenen ins Reich des Osiris gebracht, sozusagen das ägyptische Paradies.«
»Und wenn sie sich zum Herzen hinneigt?«
Keine der beiden bemerkte, wie der Boden unter ihren Füßen bebte.
»Wenn das Herz schwerer wiegt«, fuhr Isabel fort, »dann senkt sich dessen Waagschale, und eine unförmige Bestie namens Ammit
verschlingt es und verhindert so, dass die Seele über den Tod hinaus existiert.«
Vera sah sich um. Etwas war da.
»Es gefällt mir hier nicht. Wir müssen einen Weg nach draußen finden.«
»Was ich nicht verstehe«, sagte Isabel, den Blick geistesabwesend auf das Bild gerichtet, »ist, warum die Frau mir so ähnlich
sieht.«
»Dir?«, fragte Vera verständnislos. Sie war verwirrt. Aber dann schrie sie plötzlich vor Schreck laut auf. Alles hatte zu
zittern begonnen. Die Aktenschränke kippten um, und was auf den Tischen stand, fiel auf den Teppich. Der Boden riss über die
gesamte Länge des Zimmers auf, das dadurch in zwei Hälften geteilt wurde. Dann breitete sich der Riss bis
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