Der 26. Stock
über die Wand hin
aus und spaltete den Raum endgültig. Bevor die beiden Frauen sich auf einer der Seiten treffen konnten, waren die zwei Teile
des Raums bereits meterweit voneinander entfernt. Nicht nur ihr Stockwerk war gespalten worden, sondern das ganze Gebäude
und darüber auch der Himmel, darunter die Erde und das Inferno aus Lava und Feuer, das in deren Eingeweiden schlummerte. Vera
schrie erneut auf, aber der Höllenlärm, mit dem die Welt gerade entzweibrach, löschte ihre Schreie aus. Sie verlor das Gleichgewicht
und fiel auf den Teppich, bedeckt vom Staub der von den Wänden herabfallenden Mauerstücke. Sie spürte einen heißen Luftzug
im Gesicht. Dann sah sie nichts mehr. Das Licht auf der Welt schien ausgelöscht zu sein. Das Letzte, was sie zu Gesicht bekam,
war Isabel, die etwa zehn Meter von ihr entfernt auf den Knien hockte und sie inständig bat, nicht noch weiter fortzugehen.
Auf einmal brach der Höllenlärm ab. Es blieben nur Dunkelheit und Stille, die schließlich vom leisen Läuten eines Glöckchens
durchbrochen wurde, das minutenlang widerhallte, und dann erleuchtete ein Strahler von einer nicht vorhandenen Decke aus dem
Ort, an dem Vera lag. In der Mitte des Lichtkegels befand sich ein Gegenstand, eine große, golden strahlende Waage, die einige
Zentimeter über dem Boden schwebte. Vera zögerte ein paar Augenblicke. Das Bild an der Wand hatte sich als prophetisch erwiesen.
Vera stand auf und ging auf die Waage zu und sah sich um. Absolute Leere. Kein Geräusch. Kein Licht. Nichts. Nur eine Frau
und eine Waage. Isabel hatte es ihr erklärt: das Gerichtdes Osiris, das Gericht Gottes. Sie fragte sich, ob sie wohl tot war. Sie hatte immer geglaubt, der Tod käme unter Schmerzen,
aber sie hatte keinerlei Schmerz empfunden. Vielleicht war das nur ein Traum. Sie machte noch einen Schritt und warf einen
Blick in die beiden Waagschalen. Auf deren Grund sah sie nur eine mattschwarze Fläche, die jegliches Licht schluckte und nichts
abstrahlte. Womöglich erstreckte sich unter einer der Waagschalen ein unermesslicher Abgrund, in dem ein Untier hauste, das
sie verschlingen sollte; oder es war doch nur derselbe Boden, über den sie gerade wandelte. Sie konnte es nicht wissen. Dennoch
trat sie an eine der großen Schalen und setzte einen Fuß hinein.
Der goldene Aufbau schwankte, und Vera erinnerte sich an das Gefühl, das sie als kleines Mädchen gehabt hatte, wenn sie sich
beim Schaukeln aufgestellt hatte. Sie hielt sich an den Ketten fest, die die Waagschale mit dem Arm der Waage verbanden, und
richtete sie sich auf. Dann warf sie einen Blick in die andere Schale. Noch war nichts geschehen. Plötzlich nahmen ihre Augen
eine Bewegung am oberen Ende ihres Gesichtsfelds wahr. Sie sah auf und begann zu begreifen, dass Isabel recht gehabt hatte.
Ein großer schwarzer Falke flatterte über der riesigen Waage. Vera versuchte, ihm mit dem Blick zu folgen, aber sein dunkles
Gefieder verschwamm vor dem Himmel, der ebenso matt war wie der Grund der Waagschalen.
Nachdem der Greifvogel mehrmals die Waage umkreist hatte, ließ er sich in der Mitte auf dem großen Ring nieder, der die Waage
krönte. Er war ein majestätischer Vogel, so groß wie ein Adler. Er begann, sich mit dem gekrümmten Schnabel die pechschwarzen
Brustfedern zu putzen. Eine nach der anderen fuhr er mit dem Schnabel ab. Auf einmal hielt er inne und richtete seine glitzernden
Äuglein auf die Frau, als sähe er sie erst jetzt. Er fixierte sie einige Sekunden lang und nahm dann wieder seine vorherige
Tätigkeit auf. Dabei schüttelte er mehrmals ruckartig den Kopf; als er den Hals streckte, sah Vera, dass er eine große weiße
Feder im Schnabel hielt. Er ließ sie fallen, und die Feder schwebte in kleinen Kreisen nieder. Vera entspannte sich beimAnblick der sanften Schaukelbewegung. Sie spürte, wie ihre Lider schwer wurden. Als die Feder die goldene Oberfläche der leeren
Schale berührte, änderte sich alles.
Noch im selben Augenblick verspürte Vera einen schmerzhaften Stich in der Seite, der sie die Augen aufreißen und laut schreien
ließ. Sie ging vor Schmerz in die Knie und presste sich die Hände an die Brust, die wie von selbst bebte und pochte. Ihr Oberkörper
schwoll unter der Kleidung zu absurden Ausmaßen an. Sie presste die Arme dagegen, doch vergeblich. Etwas wuchs in ihr und
dehnte ihre Brust wie einen Luftballon. Die Bluse platzte, und es schoss heraus und fiel
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