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Der 26. Stock

Titel: Der 26. Stock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Enrique Cortés
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Hände vor die Ohren gepresst und sang ihr Lied, um die
     grässlichen Schreie nicht hören zu müssen. Aber es half nichts. Ihre Stimme war zu schwach, um die Schreie zu übertönen. Der
     letzte Schrei machte ihr klar, dass sie sich vergeblich versteckt hatte. Sie wussten, dass sie hier war. Sie waren gekommen,
     um sie holen.
    »Isabel, hilf uns!«

46
    »Du verdienst es zu leben«, sagte eine freundliche Stimme, die sanft im Raum widerhallte.
    Vera spürte, wie ihr Herz wieder zu pochen begann. Ein ferner Lichtpunkt funkelte und wurde langsam größer, er kam näher und
     durchdrang die Schwärze, die sie umgeben hatte. Als das Licht nur noch wenige Meter weit entfernt war, erkannte Vera die Silhouette
     einer in Weiß gekleideten Frau. Ihre Haut strahlte einen warmen Glanz ab. Vera fühlte, wie sie ruhig wurde. Die Frau trat
     näher. Sie war jung und hatte lange goldgelbe Korkenzieherlocken, die ihr über die Schultern fielen. Vera stand noch immer
     auf der goldenen Waagschale. Doch das Metall hatte jeglichen Schimmer eingebüßt.
    »Wer bist du?«, fragte sie. Die junge Frau antwortete nicht. Eingehüllt in ihre Aura ging sie weiter bis zur anderen Waagschale,
     stieg hinein und nahm die weiße Feder in die Hand.
    Vera spürte, wie die Schale, auf der sie stand, ein kleines Stück emporgehoben wurde, doch sie hing immer noch deutlich tiefer
     als die andere. Sie fragte sich, ob sie wohl noch über dem Abgrund schwebte, beschloss aber, lieber nicht nachzusehen. Von
     einem sehr fernen Ort ertönte wieder die tiefe Stimme des Mannes, die sie gehört hatte, bevor ihr Herz stehen geblieben war.
    »Sie soll in den Abgrund stürzen. Viele haben ihretwegen leiden müssen. Und die Schuld wiegt schwer auf der Waage.«
    Die junge Frau hob den Blick zum nicht vorhandenen Himmel und winkte mit der Feder. Ein schmaler Lichtstrahl trat aus ihrer
     Stirn und senkte sich in die Mitte der Waagschale, auf der sie stand. Dann breitete sich allmählich eine dünne Schicht auf
     derSchale aus, die binnen kurzer Zeit in goldenem Feuer erstrahlte. Um die Waage herum entstand ein mehrere Meter umfassender
     Lichtkreis. Vera sah, wie ein Mann und eine Frau aus der Dunkelheit in diesen Kreis traten. Sie sprachen, aber aus ihren Mündern
     kam kein Laut. Auf einmal schlug der Mann die Frau mit der Handkante in den Nacken, und sie fiel schutzlos auf die Knie, völlig
     überrascht von seinem Schlag. Vera kamen keine Tränen, obwohl die Frau am Boden zu weinen begann.
    »Wer sind diese Menschen?«, fragte die weißgekleidete Erscheinung sanft und zeigte mit ihrer blassen Hand auf sie.
    »Er   …«, setzte Vera an. Sie spürte weder Wut noch Schmerz. Nur Mitleid mit einer törichten Frau, die sich hatte täuschen lassen,
     die zu schnell einem Mann vertraut hatte, den sie für einen wundervollen Menschen hielt. »Er ist mein Mann. Und sie, das bin
     ich, vor Jahren. Das war, als er mich zum ersten Mal geschlagen hat.«
    »Und warum hat er das getan?«
    »Weil ich wieder schwanger geworden bin«, antwortete Vera. »Wir wollten das beide nicht, aber er dachte, ich hätte es absichtlich
     geschehen lassen. Er war überzeugt, ich hätte das nur getan, um ihn zu verletzen.«
    Die Weißgekleidete setzte sich hin, und die Waagschale begann leicht zu schaukeln. Sie schlug die Beine übereinander, stützte
     die Ellbogen auf die Knie und das Kinn in die Hände, als lauschte sie mit höchster Aufmerksamkeit den wissenschaftlichen Ausführungen
     eines Professors.
    »Und warum hast du nicht abgetrieben? Oder du hättest das Kind auch nach der Geburt loswerden können.«
    »Loswerden?«, fragte Vera entgeistert. Wie konnte diese zarte junge Frau nur so reden?
    »Es gibt tausend Wege.«
    Vera schüttelte den Kopf. Es wäre ihr nie auch nur in den Sinn gekommen, sich von der kleinen Ana zu trennen, nachdem sie
     auf die Welt gekommen war.
    »Das hätte ich nie gekonnt. Er hat mich mehrmals darum gebeten,und in den letzten Wochen meiner Schwangerschaft habe ich sogar überlegt, ob ich nicht besser in ein Hotel gehe. Ich hatte
     Angst, er könnte der Kleinen etwas antun, bevor sie geboren wurde. Das war doch meine Kleine. Ich konnte mein Kind ja nicht
     im Stich lassen.«
    »Das war es doch erst, als es zur Welt kam.«
    »Nein, schon viel früher«, rief Vera erregt. Was sie damals empfunden hatte, war schwer in Worte zu fassen. »Seit ich sie
     auf dem ersten Ultraschall sah, war sie meine Kleine. Und außerdem   … Ich habe meinen Mann noch

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