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Der 26. Stock

Titel: Der 26. Stock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Enrique Cortés
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nur einen Weg.«
    »Und zwar?«, fragte Vera, obwohl sie die Antwort im tiefsten Inneren bereits kannte.
    Ein unangenehmer, noch kaum merklicher Geruch stieg von unter der Waage auf.
    »Zu sterben«, erwiderte die junge Frau. Dabei sah sie ihr fest ins Gesicht und lächelte sie weiter an.
    Sie sagte das, als ginge es um einen bloßen bürokratischen Akt, aber Vera erstaunte das nicht. Die beiden hatten recht. Sie
     hatte dieses Ende verdient. Das war ihr klar geworden, als ihr toter Mann sie zum ersten Mal besucht hatte und dann fortgegangen
     war, zum Turm: Er müsse dort etwas regeln. Aber er war nie zurückgekehrt. Er hatte für seine Schuld bezahlt, so wie sie es
     früher oder später würde tun müssen. Vera erhob sich. Erst jetzt fiel ihr auf, dass die Waagschale der jungen Frau tiefer
     hing als ihre eigene. Vorher war es noch umgekehrt gewesen.
    »Aber was   …?«
    »Bist du bereit zu sterben?«, unterbrach die andere. Mit einem Mal war ihr Lächeln verschwunden.
    Vera atmete tief durch. Sie brauchte sich das nicht lange zu überlegen.
    »Wenn dafür die Mädchen in Sicherheit kommen, ja.«
    Die blonde Frau nickte und stand auf. Sie hob den Blick, als erwartete sie Anweisungen von der tiefen Stimme. Plötzlich schwankte
     die Waage, und aus der Tiefe kam ein Fauchen, begleitet von einem eisigen Hauch. Vera erkannte, dass sie noch immer über dem
     Abgrund hingen, über dem Monster, das sie sehr bald verschlingen würde.
    »Wirf dein Herz in den Abgrund«, befahl die Stimme von ihrem unbekannten Ort aus. »Dann ist alles vorbei. Den Mädchen wird
     nichts geschehen.«
    Als Kind hatte man sie gelehrt, an eine Religion und an einen Gott zu glauben, der auf der Seite der Schwachen und Gerechten
     stand und böse Menschen zur Rechenschaft zog. In ihrem Leben hatte sie jedoch erfahren, dass die Wirklichkeit ganz anders
     aussah. Die Rückkehr ihres Mannes hatte den letzten kümmerlichen Rest von Glauben erschüttert. Ihr blieb nur, dieser eigentümlichen
     Stimme zu vertrauen, die sie vage an die ihres Vaters erinnerte. Sie konnte nichts anderes tun als gehorchen. Wenn ihre Töchter
     dadurch gerettet wurden, so war es das wert. Wenn nicht, gab es vielleicht gar keine Möglichkeit.
    Sie tat einen Schritt nach vorne, an den Rand des Abgrunds, und sah nach unten. Das sollte sie sofort bereuen. Sie erkannte,
     dass sie nicht etwa über einem Loch stand, sondern über einem riesigen Maul. In dem Schlund trieben stumme, gestikulierende
     Körper in einer weißlichen Flüssigkeit und starrten erwartungsvoll zu ihr herauf, die hungrigen Münder weit aufgerissen. Bald
     würden sie ihr Herz zu fassen bekommen und es verschlingen, und sie selbst würde ebenfalls im Leib des Monsters enden. Vera
     schloss erneut die Augen und sah die Züge ihrer Töchter vor sich: Anas Stupsnase und ihre leicht abstehenden Ohren, Claras
     kleinen Mund und ihre großen durchdringenden Augen   … Sie sah sie vor sich, Hand in Hand, und sie riefen den einzigen Namen, der ihr im Leben das Gefühl gegeben hatte, etwas
     Besonderes zu sein: Mama. Sie öffnete die Hände und breitete die Arme aus. Das Herz glitt ihr zwischen den Fingern durch und
     fiel ins Leere.
    »Gut!«
    Die junge Frau fing an zu lachen. Vera schlug verwirrt die Augen auf. Sie hatte als Nächstes einen furchtbaren Schmerz erwartet.
     Die Ketten, welche die beiden Waagschalen hielten, rasselten. Vera wurde bewusst, wo sie sich befand: Ihre Schale hing nun
     etwa zwei Meter über der, in der die junge Frau saß.
    »Du hast dein Leben für sie hingegeben«, sagte die tiefe Stimme, die nun näher schien denn je. »Das ist das höchste Opfer
     von allen.«
    Wieder rasselten die Ketten. Die Bewegung kam ruckartig, und Vera warf sich in die Mitte der Schale, um nicht abzustürzen.
    »Durch dein Verhalten«, fügte die junge Frau hinzu und hob dabei ihre sanfte Stimme, damit Vera sie hören konnte, »hast du
     dir eine neue Chance errungen. Nutze sie!«
    Vera beugte sich über den Rand und sah, dass die Waagschale der schönen Unbekannten nun über dem Abgrund hing. Die junge Frau
     schaukelte über dem Atem des Wesens, das unten lauerte, hin und her. Aber sie schien davon keine Notiz zu nehmen und malte
     weiter mit der weißen Feder Phantasiefiguren in die Luft. Vera stieß einen Schrei aus, um sie zu warnen, doch die Frau fühlte
     sich offenbar nicht angesprochen. Lächelnd schaukelte sie weiter, glücklich, während die letzten Glieder der Kette durch den
     Ring

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