Der 26. Stock
geliebt. Ich dachte, er hätte nur wegen der Schwangerschaft eine schlechte Phase. Die ersten Jahre
waren wunderschön gewesen, und ob das Kind nun geplant war oder nicht – es war doch die Tochter des Mannes, den ich liebte.«
Ein heftiger Aufprall ließ sie herumfahren. Da, ein weißer Kühlschrank und auf der Tür des Eisfachs ein rubinroter Fleck.
Am Boden eine Frau, die ihr Gesicht mit den Händen bedeckte. Neben ihr stand er. Es war über ein Jahr vergangen. Ana fing
bereits an zu sprechen, und die Frau weinte nicht mehr. Sie hatte gelernt, dass das nichts half. Am besten, sie schützte ihr
Gesicht und ihren Bauch und wartete, bis er müde wurde oder die Lust verlor.
»Warum hast du ihn nicht verlassen?«
Vera hatte sich das in den letzten Jahren oft selbst gefragt.
»Meinen Töchtern zuliebe«, sagte sie. Sie setzte sich ebenfalls hin und legte ihr Herz in den Schoß. »Ich wollte nicht, dass
sie ohne ihren Vater aufwachsen mussten, und ich dachte, eine Scheidung würde sie ihr Leben lang prägen. Ich wollte sie in
dem Glauben lassen, dass ihre Mutter und ihr Vater einander liebten. So brachte ich ihn dazu, seine Wut an mir auszulassen
und die Kleinen nicht anzutasten. Manchmal hatte ich schon Angst, dass er ihnen etwas antun könnte. Ich wollte doch nur, dass
meine Mädchen glücklich sind.«
»Obwohl sie in einer Illusion lebten, oder?«
Vera nickte niedergeschlagen. Sie merkte dabei nicht, wie die Waagschale, auf der sie saß, sich langsam weiter hob.
»Hätte ich damals gewusst, was ich heute weiß«, fuhr sie fort,»dann hätte ich ihn sofort verlassen. Ich wäre fortgegangen und hätte ihn angezeigt. Aber ich war ganz anders erzogen. Ich
dachte, es sei meine Pflicht, ihn zu ertragen. Das war falsch. Jetzt weiß ich, dass ich besser mit meinen Töchtern weggegangen
wäre und ihn alleingelassen hätte. Früher oder später wären sie alt genug gewesen, um es zu verstehen. Und sie hätten zwar
keinen Vater gehabt – einen Mann, der sich sowieso kaum um sie kümmerte –, dafür aber eine fröhlichere, glücklichere Mutter. Das hätte den Verlust ausgeglichen.«
Vera hielt noch immer den Blick gesenkt. Ihr war, als hätte sie eine jahrhundertelang verborgene Sünde gebeichtet. Die junge
Frau schwieg. Sie sah Vera nur an und dachte über das nach, was sie gerade gehört hatte. Schließlich bewegte sie die Lippen
und warf dabei die Feder hoch, um sie wieder aufzufangen.
»Weißt du, dass du sterben wirst?«
»Ich will nicht sterben.« Vera war selbst überrascht, wie ruhig und gelassen sie war. Sie hatte immer geglaubt, wenn sie so
etwas einmal sagen sollte, würde sie vor Angst und Schrecken schreien, wie sie es aus Filmen kannte. »Ich kann nicht sterben.«
»Warum?«, fragte die andere lächelnd.
»Wenn ich tot bin, wer hütet dann meine Töchter? Clara ist allergisch gegen weiße Schokolade, sieht gerne von der Terrasse
aus den Menschen zu, die auf der Straße vorbeigehen, und wünscht sich schon seit Ewigkeiten ein Pferd. Und Ana, wer soll denn
wissen, dass sie Angst vor dem Baden hat? Sie denkt, unter Wasser könnten Monster lauern, und deshalb badet sie nur, wenn
sie ihre Puppen mitnehmen darf. Und wenn ihr der Bauch wehtut, geht es ihr ganz schlecht und dann muss sie bei mir im Bett
schlafen. Clara wird bald ihre erste Regel bekommen, und dann dauert es nicht lange, bis sie mit ihren Freundinnen ausgeht,
und irgendwann wird sie studieren und sich verlieben und Ana auch, und sie werden meinen Rat brauchen, und ich will sie groß
werden sehen, und wenn ich sterbe, möchte ich, dass sie mir die Hand halten, denn die beiden sind alles, was ich habe.«
»Weißt du, warum dein Mann zurückgekehrt ist?«
Wieder hob sich Veras Waagschale ein Stück. Sie hatte angefangen zu weinen und konnte den Blick nicht von ihrem schutzlosen
Herzen wenden.
»Ja«, sagte sie, »das hat sich jemand so ausgedacht, um mich für das zu bestrafen, was ich getan habe, aber die Mädchen dürfen
nicht darunter leiden, und Clara … gütiger Himmel, er hat sie geschlagen.«
Die junge Frau stand auf, trat an den Rand ihrer Waagschale, setzte sich darauf und ließ die Beine ins Leere baumeln. Die
tiefe Stimme erfüllte wieder den Raum und ließ das Metall der Waage erzittern.
»Er ist vom Tod zurückgekehrt, um dich hierher zu bringen, vor den Richter des Jüngsten Gerichts. Das ist deine Strafe und
auch deine Erlösung. Wenn du dich retten willst, gibt es dafür
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