Der 26. Stock
rasselten.
»Spring, sonst stirbst du!«, schrie Vera.
»Ich bin schon tot«, flüsterte die junge Frau. Vera hörte das ganz deutlich, obwohl ihre Worte nur ein Wispern waren im Vergleich
zum Triumphgeheul des Monsters. »Du hast noch eine Chance. Vergiss das nicht, Vera. Eine einzige.«
Das Maul klappte zu. Vera schoss der Gedanke durch den Kopf, wenn sie sich selbst dem Untier ins Maul stürzte, könnte sie
die junge Frau vielleicht noch retten. Doch bevor sie den ersten Schritt tun konnte, durchtrennten die Zähne des Monsters
die Kette, an der die Schale hing. Die Waage kippte zu Veras Seite und fiel dann in sich zusammen. Vera streckte die Hände
aus, um sich irgendwo festzuhalten, aber ringsum war nichts als pechschwarzeLeere. Sie klammerte sich an den Rand, in der Hoffnung, sich so vor einem möglichen Aufprall schützen zu können, und dann
fiel sie, nicht jedoch in den Schlund des Monsters – das war gesättigt und schon nicht mehr da –, sondern an einen anderen Ort, der nah und fern zugleich war, einen unermesslichen schwarzen Abgrund, der sich dickflüssig
und zäh anfühlte wie eine Lagune der Traurigkeit.
»Vera«, klang ihr eine warme Stimme in den Ohren, »deine Stunde hat noch nicht geschlagen.«
»Und was glaubst du läuft hier?«
Carlos antwortete nicht. Er legte das Band ein und drückte auf Play. Sein Gesicht leuchtete in verschiedenen Farben. Zac hätte
sie nicht genau benennen können, stellte jedoch überrascht fest, dass ihm das gar nicht komisch vorkam.
»Sieh selbst«, sagte Carlos jetzt und schaltete das Fernsehgerät ein.
Zac sah aufmerksam hin. Das Bild auf dem Fernsehschirm war gestochen scharf. Die Szene erschien in verschiedenen Grautönen.
Eine Panoramaaufnahme zeigte ein Gebäude mit kaputten Fensterscheiben. Zac erkannte sofort das massive Hochhaus, in dem Carlos
vor kurzem seine neue Stelle angetreten hatte. Auf einmal schoss ihm in den Sinn, wie schön es eines Tages aussehen würde,
wenn es brannte, und er fragte sich, woher er das wissen konnte, aber er sagte nichts. Die Kamera fuhr an der Fassade herunter.
Zwei Männer standen neben einem dritten, der am Boden lag. Einer von ihnen trug eine Polizeiuniform; er schien mit dem Streifenwagen
gekommen zu sein, der an der Seite zu sehen war. Der Polizist öffnete den Kofferraum seines Fahrzeugs und entnahm ihm eine
kleine schwarze Kamera. Er schoss vier Bilder aus unterschiedlichen Winkeln, viermal leuchtete der Blitz auf, dann verstaute
er die Kamera wieder. Anschließend trat er zu der Leiche, beugte sich hinunter und legte eine Hand an ihre Schulter.
»Willst du wirklich behaupten, dass die Polizei einen Todesfall vertuscht hat?«
»Nein, das nicht. Du bist zu ungeduldig.« Carlos legte den Finger an die Lippen, ohne den Blick vom Bildschirm zu wenden.
»Schau. Was mir Kopfzerbrechen bereitet, ist das hier.«
Der Polizist schlug der Gestalt am Boden zweimal auf die Schulter. Was dann geschah, führte dazu, dass Zacs bisherige Hypothesen
sich wie Rauchschwaden im Wind auflösten. Denn beim dritten Klaps auf die Schulter regte sich der Mann. Er wandte den Kopf
dem Polizisten zu, und als der nickte, erhob er sich; der Filmkamera kehrte er dabei den Rücken zu. Die drei Männer stiegen
ein, und der Streifenwagen fuhr links aus dem Bild. Carlos hielt die Aufnahme an.
»Ich glaube, sie sind in die Tiefgarage gefahren. Fünf Minuten später kommt der Wagen noch mal vorbei, aber die Bildqualität
ist miserabel. Ich weiß nicht, ob immer noch alle drei drinsitzen.«
Zac stand auf. Er wollte ihm sagen, er solle sich keine Sorgen machen. Der Bursche in Polizeiuniform und sein Begleiter, der
sich kaum vom Fleck bewegt hatte – ein renommierter Gerichtsmediziner, wie sich herausstellen sollte –, würden bald unter sehr unerquicklichen Umständen sterben. Aber wie konnte er das wissen? Diese Ereignisse lagen doch in
der Zukunft.
»Mann, wo hast du bloß dieses Band her?«, fragte er. Carlos zuckte die Achseln.
»Das spielt keine Rolle. Entscheidend ist, dass ich eine neue Theorie habe, und die solltest du erfahren. Denn falls sie zutrifft,
muss ich dieses Band so schnell wie möglich loswerden. Vorschläge?«
»Ich kann es schon aufbewahren.«
Carlos schüttelte den Kopf. Damit hätten sie es demjenigen, der ihm schon eine Zeit lang auf der Spur war, zu einfach gemacht.
Zac fuhr sich nachdenklich durch seine weißen Haare.
»Der Bruder der Frau, die du da
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