Der 26. Stock
schließlich liegen blieb, sah Isabel das Stockwerk auf Bodenhöhe. Da war
ein Knie auf dem Teppich. Sein Besitzer richtete sich auf.Das Hosenbein war blutverschmiert. Isabel erkannte die Hose und die Turnschuhe wieder. Sie hatte sie selbst gekauft. Zwei
Hände griffen nach der Kamera und hoben sie auf. In diesem Moment erschien flüchtig ein Gesicht, bevor die Linse sich wieder
auf die weiße Wand richtete. Da – das war Teo. Kein Zweifel, das war er gewesen. An der Wand waren keine Aufzüge mehr zu sehen.
Ihm war also das Gleiche passiert wie ihnen beiden. So etwas hatte sie schon befürchtet. Von irgendwoher kam ein Geräusch,
und sofort schwenkte die Kamera herum, auf der Suche nach der Quelle des Geräuschs. Es war eine Art leises, tiefes Quaken,
so, als zerplatzte eine riesige Schlammblase. Teo machte ein paar Schritte beiseite. Wieder ertönte das seltsame Quaken, jetzt
allerdings etwas näher. Und ein anderes Geräusch mischte sich darunter. Etwas schien unter seinem Gewicht Aktenschränke, Tische
und Computer zu zerquetschen. Teo richtete die Kamera wieder zur Wand, und auf einmal sprang das Bild und schwankte so stark,
dass nichts mehr zu erkennen war. Er war losgerannt. Das amorphe, tiefe Geräusch setzte sich fort, als käme es vom Grunde
einer Seele. Isabel legte die Kamera weg.
»Nein!«
Was auch immer ihren Bruder verfolgt hatte, es war hier in der Nähe. Und es kam auf sie zu, Isabel konnte es hören. Sie sprang
auf und legte Vera die Hand auf die Stirn.
»Nein, ich will nicht!«
Vera delirierte, aber ihr Fieber hatte nachgelassen. Sie hatte die Augen geschlossen und wedelte schwach mit den Armen. Auf
dem kalten Marmorboden zu liegen, hatte ihr gutgetan, und dass sie nicht bei Bewusstsein war, hielt sie von dem ganzen Albtraum
fern, dachte Isabel. Tatsächlich befand sich Vera in ihrem eigenen Albtraum.
Isabel richtete sie auf, so gut sie konnte, und setzte sie wieder in den Stuhl. Veras Kopf fiel auf die Brust, und ihr entblößter
Hals ließ Isabel an einen Verurteilten denken, der mit gesenktem Haupt auf den Hieb des Henkers wartet.
In diesem Moment erfüllte ein neues Geräusch den Korridor.Diesmal war es ein Schrei, der Schrei eines Mannes. Darauf folgte wieder das tiefe Quaken, das sich nun kontinuierlich wiederholte.
Es war ganz nahe. Isabel rollte den Stuhl durch die Badtür. Sie sah nach links. Dort hinten befand sich die Doppeltür zum
Büro des Direktors. Die Tür stand offen. Das Geräusch schien von dort zu kommen. Ein Teil von Isabel wollte genauer herausfinden,
von wo das Geräusch stammte. Und wenn jemand Hilfe brauchte? Sie drehte sich in die Richtung, in die sie die tiefen Quaklaute
zogen. Da hörte sie hinter sich ein anderes Geräusch. Schritte. Jemand schien davonzulaufen. Sie fuhr herum, in der Hoffnung,
ihren Bruder zu erblicken, doch stattdessen sah sie nur eine weiße Gestalt, die um die Ecke bog. Isabel war perplex. Sie wusste
nicht, was sie tun sollte, und von ihrer Entscheidung hing nicht nur ihr eigenes Überleben ab.
»Ich will nicht!«
Vera wiederholte es immer wieder. Zu ihrer Linken fiel die Tür zu dem großen Büro zu. Es war niemand herausgekommen. Jemand
musste die Tür von innen geschlossen haben. Auf einmal begann die Tür zu erzittern. Isabel stand wie angewurzelt da. Sie musste
nachsehen, was da los war. Vielleicht stand ihr Bruder hinter den beiden hölzernen Türflügeln, die immer heftiger zu beben
begannen.
Isabel drehte sich um, ließ die Kamera in Veras Schoß fallen und rollte den Stuhl, so schnell sie konnte, den Flur hinunter,
der weißen Gestalt hinterher. Gerade als sie den großen Raum erreichte, brach die Doppeltür aus den Angeln. Rötliches Licht,
das aus dem Chefbüro drang, erfüllte das Stockwerk. Isabel sah sich noch mal um. Holzsplitter wurden auf den Flur geschleudert.
Sie hörte einen Schrei, dann noch einen. Das waren keine Worte, das waren Schmerzensschreie. Der zweite stammte von einer
Frau. Sie kamen vom Ort der Explosion. Isabel dröhnten noch eine Weile die Ohren, dann wurde es plötzlich still. Sie sah sich
um. Sie musste einen Weg nach draußen finden. Die Wand war immer noch völlig glatt. Das kleine Bild war verschwunden, aber
von den Aufzügen weiter keine Spur. Es war undenkbar, aus demFenster zu springen. Der Aufprall hätte sie in eine gallertartige Masse verwandelt. Stille.
»Ich will nicht sterben!«
Isabel presste ihrer Freundin die Hand auf den Mund,
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