Der 26. Stock
trat sie vor und stellte
sich neben Isabel. Sie legte ihr eine Hand auf die Schulter, was freilich keine der beiden zu beruhigen vermochte. Dabei sah
sie Isabel an. Ihre Unterlippe bebte pausenlos.
»Nein, die Entscheidung liegt nicht bei euch. Wenn herauskäme, was los ist, würde das Unternehmen zusammenbrechen, und das
dürfen wir nicht zulassen. Am Anfang habe ich nicht begriffen, welche Bedeutung dieses Unternehmen tatsächlich hat, aber es
gab jemanden, der mir die Augen geöffnet hat. Wenn er nicht gewesen wäre, hätte ich mich dir wahrscheinlich irgendwann offenbart,
Vera, und dann wären wir wohl zusammen zur Polizei gegangen. Aber er hat uns nicht nur geholfen, uns hier zu verschanzen,
indem er als Mittelsmann zur Außenwelt diente, er hat mir auch aufgezeigt, dass wir in diesem Leben einen Auftrag haben. Und
meiner lautete nicht bloß, mich zu verlieben, eine Familie zu gründen, glücklich zu sein oder mich irgendwelchen flüchtigen
Genüssen hinzugeben, sondern Teil dieses großen Unternehmens zu sein und einen Beitrag für seine Zukunft zu leisten.«
Vera runzelte die Stirn. Man hatte Alberto ja einer richtigen Gehirnwäsche unterzogen.
»Und wer soll das sein?«
Von irgendwoher war eine andere männliche Stimme zu hören.
»Das einzige Mitglied des Vorstands, das dieses Stockwerk verlassen und sich nach Belieben auf der ganzen Welt bewegen kann,
weil es nämlich nicht sterben kann.«
Da bemerkte Vera einen weiteren Sessel am Kopfende – Nummer sechzehn – zwischen Alberto und demjenigen, der leer geblieben war. Er stand verkehrt herum, und die schwarze Rückenlehne
war kaum von der Dunkelheit zu unterscheiden, die den Raum erfüllte. Jetzt aber drehte sich der Sessel, und dahinter erschienen
zwei Personen. Die Gesichter der Anwesenden wandten sich allesamt Hugo zu, der es sich lächelnd auf der breiten Sitzfläche
bequem gemacht hatte. Neben ihm stand ein Junge mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf. Hugo hatte ihm eine Hand in den
Nacken gelegt.
»Teo!«
Isabel hatte den Ausruf nicht unterdrücken können und rannte um den Tisch herum. Das Aufblitzen einer Metallklinge ließ sie
innehalten. Die Hand an Teos Hals drehte sich und gab den Blick auf ein Taschenmesser frei, das Hugo geschickt in den Fingern
hielt. Isabel stand wie angewurzelt da. Hugo lächelte immer noch.
»Ist es nicht paradox«, sagte er, »dass ausgerechnet die Hand, die ihr zerstören wolltet, euch nun erzittern lässt? Nun ja,
eines lasst euch jedenfalls gesagt sein: Als Pfeifenraucher weiß ich ganz gut mit solchen Gegenständen umzugehen.«
»Lass ihn los!«, rief Isabel und machte einen Schritt nach vorne.
»Glaub mir, meine Liebe, du solltest mich besser nicht auf die Probe stellen.«
Vera trat zu Isabel. Einige Vorstandsmitglieder wirkten perplex, andere wohnten der Szene mit der abwesenden Miene von Zombies
bei.
»Hugo, lass den Jungen los«, bat Vera. Sie hielt Isabel am Armfest, um sicherzugehen, dass diese nicht durchdrehte und ihren Bruder zu befreien versuchte. Vera kannte dieses Glitzern in
Hugos Augen. Sie hatte es schon viel früher in denen ihres Mannes gesehen. Er würde nicht zögern, Teo etwas anzutun.
»Vera, halt dich da raus«, mischte sich Alberto jetzt ein und drehte sich zu Hugo. »Das reicht. Von einem Messer war überhaupt
nicht die Rede. Lass ihn gehen.«
Das Lächeln verschwand aus Hugos Gesicht. Er musterte Alberto ein paar Sekunden lang.
»Wage es nicht noch einmal, mir Befehle zu erteilen, du verdammter Idiot.«
»Ich sage doch nur …«
»Wer hat dir in den letzten zwei Wochen dein Essen beschafft? Wer hat dafür gesorgt, dass Isabel bis hierher gekommen ist?
Du hattest lediglich dafür zu sorgen, dass niemand etwas mitbekommt. Aber hast du es geschafft, dass Isabel sich aus der Geschichte
heraushielt? Nein! Du hast sie einfach nur gewarnt, sie solle weggehen. Aber das war keine Lösung, du unfähiger Penner. Und
wenn jemand zu viel weiß, gibt es nur zwei Optionen: Entweder du bringst ihn auf deine Seite oder du lässt ihn für immer verschwinden.«
Nun wandte Hugo den Kopf in Teos Richtung. Er packte ihn so heftig am Nacken, dass der Junge auf die Knie fiel. Teo presste
die Augen fest zusammen und brach, ohne ein Wort zu sagen, in Tränen aus. Seine Lippen zitterten heftig.
Vera dachte an die Pistole, die sie Hugo abgenommen hatte. Wie gerne hätte sie sie zur Hand gehabt. Sie hätte ohne mit der
Wimper zu zucken auf
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