Der 26. Stock
logisch und abgeklärt.
Am Ende sah ich von meinen Berichten auf und gestand damit ein, dass diese Erscheinung keine Ausgeburt meines Hirns war. Niemals.«
Isabel folgte seinen Ausführungen. Ihr war, als würde sie die letzten Seiten eines Thrillers lesen. Die Aufklärung des Rätsels
schien unmittelbar bevorzustehen. So gespannt lauschte sie, dass sie nicht bemerkte, wie plötzlich im Halbdunkel auf der linken
Seite des Raumes ein Augenpaar aufblitzte.
»Sie waren tot, das haben sie mir gesagt«, fuhr Alberto fort und hob jetzt doch den Blick. »Davor hatten sie leiden und Dinge
durchstehen müssen, die sie beinahe den Verstand gekostet hätten. Mit ihrem Tod und dem Schmerz hatten sie dafür bezahlt,
indirekt selbst Menschen getötet und ihnen Schmerz zugefügt zu haben. Und deshalb waren sie nun zu mir geschickt worden –
um mit mir dasselbe zu machen. Mich in den Wahnsinn zu treiben und schließlich zu töten. Zum Glück habe ich ihre Absichten
rechtzeitig durchschaut. Ich bat meine Frau, die Stadt zu verlassen. Sie willigte zwar ein, aber nur um den Preis der Scheidung.
Na, Vera, wie findest du das? Um meine Familie zu retten, musste ich sie verlieren. Aber wenigstens ist sie nicht in diese
Sache verwickelt worden.
Leider ist das mit dir anders gelaufen. An dem Abend, an dem wir uns zum letzten Mal trafen, habe ich dich gebeten, mit mirdas Unternehmen zu verlassen. Der Gedanke kam dir verständlicherweise völlig absurd vor. Du hast zwei Töchter, für die du
sorgen musst, und wolltest für ein Hirngespinst dein Gehalt nicht aufs Spiel setzen. Dann überstürzten sich die Ereignisse
leider. Der Anruf von deinem Handy aus, die Stimme deines Mannes … Als ich dich dort sah, misshandelt und angsterfüllt, da wurde mir klar, dass ich der Sache ein Ende setzen musste, und so
bin ich hierhergefahren. Ich hatte vor, die Nacht im Turm zu verbringen und, wenn nötig, auf den Vorstand zu warten, um so
schnell wie möglich eine Erklärung zu bekommen. Aber ich brauchte nicht zu warten. Als ich ankam, waren alle, die du hier
versammelt siehst, bereits da. Alle in der gleichen Lage – bedroht von einem unbekannten Feind, der ihnen ans Leben wollte.
Einige waren schon seit geraumer Zeit hier.«
»Wer ist dieser Feind?«, schaltete sich Vera ein.
»Ich weiß es nicht«, gab ihr früherer Liebhaber zu. »Niemand weiß das. Sicher wissen wir nur, dass vielen unserer Angestellten
nachgestellt wurde. Einige wurden bedroht und beschlossen daraufhin, zu gehen, andere drehten durch und waren damit außer
Gefecht gesetzt. Einige, die besonders intensiv an gewissen Aktivitäten der Firma beteiligt gewesen waren, mussten sterben.
Deshalb hat die Suche nach neuem Personal ja solche Ausmaße angenommen. Sogar unter den Vorstandsmitgliedern hat es einen
ständigen Aderlass gegeben. Als sogar der Vorstandsvorsitzende ums Leben kam, schon vor Monaten, da beschloss sein Nachfolger,
dass der einzig sichere Ort für seine Leute hier im Turm war. Aber als ich kam, hatte sich auch das wieder verändert.
Eines Tages hörten die Telefone in einem der niedrigeren Stockwerke auf zu klingeln. Die Angestellten dort hatten sich wie
bei einem gigantischen Zaubertrick in Luft aufgelöst. Der Feind war da. Allmählich stellte sich heraus, dass fast alle, die
verschwunden waren, alleinstehende Menschen waren, die kaum über Kontakte außerhalb der Firma verfügten. So musste man nur
selten Erklärungen erfinden. Als ich hierherkam, schlug ich als Erstes vor, ein neues Sicherheitssystem installieren zu lassen.Mehr Wachleute, mehr Kameras, dazu die Hightech-Bewegungsmelder, die ihr am Eingang zu diesem Stockwerk gesehen habt, eine
clevere Kombination von Laserstrahlen und reaktivem Gas. So isolierten wir das Stockwerk von der Außenwelt. Die Mitglieder
des Vorstands ließen sich für tot erklären, um unsere Verfolger zu täuschen. Ein Arzt und ein paar ehrgeizige Polizisten waren
dabei überaus hilfreich. Ich sollte das Gleiche tun, allerdings mit einer Durchgangsstation: einem renommierten Krankenhaus
in Frankreich. Und da sind wir nun, Vera. Das ist alles. Keiner von denen, die sich entschlossen haben, das Stockwerk zu verlassen,
ist lebend zurückgekehrt. Sie machen Jagd auf uns, und wenn wir versuchen zu entkommen, werden sie uns zur Strecke bringen.
Für euch gilt das auch.«
»Wenn unser Leben auf dem Spiel steht, liegt die Entscheidung doch bei uns, oder?«, fragte Vera. Dabei
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