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Der 26. Stock

Titel: Der 26. Stock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Enrique Cortés
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dem Wagen, schaltete die Tiefgaragenbeleuchtung ein und öffnete dann die Tür zum Rücksitz.
    »Warte. Lass mich das machen.«
    Carlos fasste sie sanft an der Schulter. Vorsichtig zog er Teo aus dem Auto und nahm ihn in die Arme, während der Junge im
     Halbschlaf etwas übers Motorradfahren murmelte, sein Geschenk noch immer fest im Arm.
    Kurz darauf legte Carlos Teo auf dem Bett ab. Behutsam wand er ihm die Kamera aus der Hand und legte sie auf den Schreibtisch.
    »Uff, jetzt tun mir die Arme weh«, sagte er auf dem Flur, als Isabel die Tür zu Teos Zimmer schloss.
    »Möchtest du noch ein wenig bleiben?«
    Carlos schüttelte den Kopf. »Nein. Du siehst müde aus. Ruh dich aus. Sehen wir uns am Montag in der Mittagspause?«
    »Okay. Kommst du mich abholen?«
    »Abgemacht.«
    Sie sahen sich einen Moment an, dann machte Carlos die Wohnungstür auf.
    »Ich hab das heute sehr genossen«, sagte er. Er hätte gerne noch mehr gesagt, fast schien ihm, dass Isabel das sogar erwartete,
     aber er hatte das Gefühl, dass die Zeit dafür noch nicht gekommen war. »Also dann, bis Montag.«
    »Bist du sicher, dass du nicht   …?«, fragte Isabel.
    »Nein, nein, keine Sorge.«
    »Na gut, dann also bis Montag.«
    Carlos lächelte ihr noch einmal zu und sprang dann voller Elan die Treppe hinunter. Voller Bedauern schloss Isabel die Tür
     und ging noch einmal in das Zimmer ihres Bruders. Im Halbschlafhatte er versucht, sich zuzudecken. Er sah völlig erledigt aus, ein Bein hing über die Bettkante hinunter. Vorsichtig, um
     ihn nicht aufzuwecken, zog Isabel ihm die Kleidung aus und den Schlafanzug an. Dann deckte sie ihn zu, nahm die Kamera vom
     Schreibtisch, ließ den Rollladen herunter und machte das Licht im Zimmer aus. Die Tür blieb einen Spalt offen.
    Im Wohnzimmer zurück ließ sie sich aufs Sofa fallen. Sie war hundemüde. Teo hatte die Energie eines kleinen Kindes, einfach
     unglaublich. Sie zog die Schuhe aus und spürte, wie ihre Füße kribbelten. Dann nahm sie die Kamera in die Hand und besah sie
     sich von allen Seiten. Das einzige Mal, dass sie eine in der Hand gehabt hatte, war auf dem Gymnasium gewesen. Diese hier
     war sicher nicht das neueste Modell, aber sie war auch noch nicht allzu alt. Isabel drückte den Aufnahmeknopf, wie Carlos
     es ihnen gezeigt hatte, und drehte sie die Linse zu sich hin.
    »Hallo, Carlos«, sagte sie leise, die Kamera auf ihr Gesicht gerichtet. »Weißt du, ich hätte dir einen Kuss geben sollen,
     bevor du gegangen bist. Oder dich wenigstens in den Arm nehmen. Aber ich war so steif wie ein Stock. Doch du wirst dich sowieso
     nicht lange mit einer abgeben, die einen behinderten Bruder betreuen muss und deren Gehalt keine großen Sprünge erlaubt. Und
     dann bist du auch noch jünger als ich. Weißt du, ich habe dich gerade erst kennengelernt, und trotzdem fühlt es sich an, als
     würden wir uns schon ein Leben lang kennen. Und du verstehst mich oder versuchst jedenfalls, mich zu verstehen. Kurzum: Du
     gefällst mir. Und ich habe dich nicht mal in den Arm genommen. Weißt du, wieso? Weil ich Angst habe. Weil die Welt in den
     letzten Tagen völlig aus den Fugen geraten ist und ganz seltsame Dinge passieren. Und wenn du und Teo nicht wären, wer weiß,
     dann hätte ich mich sicher in meiner Wohnung verbarrikadiert und wäre nie wieder rausgekommen. Aber das ist noch nicht alles.
     Ich habe auch Angst, es zu verbocken, Angst, dass ich falschliege, dass du einfach nur nett zu einer bedauernswerten jungen
     Frau bist und sonst nichts, und   … und   …«
    Isabel sprach nicht weiter. Sonst hätte sie weinen müssen. Mitzitternden Fingern spulte sie zurück, drehte die Kamera zur Wand und drückte dann noch mal den Aufnahmeknopf. So würde alles
     gelöscht werden, was sie gerade aufgezeichnet hatte. Sie schloss die Augen und atmete tief durch. Dann legte sie sich aufs
     Sofa. Es war erst halb elf, aber sie war so müde   … Sie wollte sich nur noch ausruhen, schlafen und vergessen.

10
    Der junge Mann blieb stehen und wartete. Als die Ampel auf Grün umschaltete, machte er den ersten Satz vom Bordstein weg. Dann noch einen
     und noch einen. Auf den weißen Strich, immer auf den weißen Strich, so als befände sich zwischen den weißen Balken ein unermesslicher
     Abgrund, in dem Monster und Dämonen seinen Absturz erwarteten, um ihn zu verschlingen. Ein weiterer Sprung, und er hatte den
     gegenüberliegenden Gehsteig erreicht. Wie einfach es war, dem Abgrund zu entkommen. Die

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