Der 26. Stock
genießen. »Du hast gedacht, der arme Miguel ist
gefeuert worden. Armer Kerl, hat nichts drauf. Oder, liebe Isabel? Tja, es scheint, dass die da oben nicht so denken wie meine
sauberen Kollegen hier unten.«
Da drehte sich Isabel um und ging zum Aufzug.
»Mach’s gut, Schätzchen!«, hörte sie ihn noch rufen, bevor der Aufzug seine Fahrt nach unten begann.
»Ich fasse es nicht, wie konnten sie diesen Schwachkopf nur befördern!«, rief Hugo. Isabel hatte ihn selten so erregt gesehen.
»Solche Typen wären im Müll gut aufgehoben, da würden sie sich wie zu Hause fühlen.«
Isabel stellte sich vor, wie Miguel aus einem Müllcontainer hervorlugte, eine Bananenschale auf dem Kopf. Sie musste ein Schmunzeln
unterdrücken. Sie war neugierig gewesen, wie Hugo die Nachricht von Miguels Beförderung aufnehmen würde.
Die riesige Kantine war praktisch menschenleer. Nur ein paar einsame Angestellte saßen noch auf den Plastikstühlen an den
umliegenden Tischen. Neben Hugo saß Cassandra. Sie hatte tiefe Augenringe, und ihre Haare waren zu einem achtlosen Pferdeschwanz
gebunden. Dabei war Cassandra immer eine sehr gepflegte Frau gewesen, besonders seit der Trennung von ihrem Mann. Sie und
Isabel hatten noch nie länger miteinander geredet, sie hatte sich nur manchmal in der Kantine zu ihr und Vera gesetzt, mit
der sie befreundet war, und die beiden hatten dann ganz offen über ihre Angelegenheiten gesprochen. Cassandra hatte sich fünf
Jahre nach der Hochzeit getrennt und sich seither zum Vorsatz gemacht, der Welt zu beweisen, dass ihr Glaube an das Gute nicht
zusammen mit der Ehe den Bach runtergegangen war. Sie achtete auf ihre Garderobe, auf das richtige Make-up und natürlich auf
ihre Figur. Doch wie sie da jetzt in der Kantine saß, schien sie ein anderer Mensch zu sein. Sie stocherte in ihrem Salat
herum wie ein kleines Kind, das keine Lust zum Essen hat.
»Cass.« Cassandra sah auf. Kurz fühlte Isabel sich an einen anderen Blick erinnert, den Blick einer Frau im Separee eines
Restaurants, die ein Glas Gin in der Hand hielt. Isabel lief es kalt den Rücken herunter. »Was hast du?«
Die andere senkte den Blick wieder auf ihren Teller.
»Nichts, mir geht’s gut«, sagte sie. »Hugo hat mir gesagt, ihr wollt mir von einem Freund von dir erzählen.«
»Ich hoffe, das war nicht indiskret von mir«, entschuldigte sich Hugo. »Aber ich denke, es ist gut, wenn sie Bescheid weiß.«
Isabel nickte. In knappen Worten schilderte sie Cassandra dann die Ereignisse von Samstagnacht.
»Hugo glaubt, dass es vielleicht etwas mit der Sache mit Alberto und Vera zu tun hat«, schloss sie.
Cassandra starrte schweigend auf ihren Teller.
»Wenn du noch lang in deinem Salat rührst, wird ihm schwindelig«, sagte Hugo.
Cassandras Lippen verzogen sich langsam zu einem Lächeln, das sie sichtliche Anstrengung kostete. Matt spießte sie ein Stück
Tomate auf und führte es zum Mund. Hugo schob seinen Teller weg und zog unwillkürlich die Pfeife aus der Tasche.
»Hör zu, Cass. Isabel und ich, wir denken, dass hier etwas faul ist. Wenn du etwas weißt, solltest du uns davon erzählen,
damit wir dir helfen können. Falls sich nämlich herausstellt, dass das alles miteinander zusammenhängt, müssen wir …«
»Es reicht«, fiel ihm Cassandra ins Wort und ließ dabei ihre Gabel auf den Salatteller krachen. »Bevor du mir noch stundenlang
auf die Nerven gehst, werde ich’s dir sagen. Mir kann keiner helfen. Es ist wegen meinem Sohn. Vor zwei Tagen wäre er drei
geworden, und ich weiß nicht wieso, aber diesmal geht mir das besonders nahe. Zufrieden?«
Isabel und Hugo hatte es die Sprache verschlagen. Mit dieser Antwort hatten sie nicht gerechnet.
»Also, äh …«, setzte Hugo fast stammelnd an. »Das tut mir leid, Cass. Entschuldige, dass ich so nachgebohrt habe, aber nach dem, wie
dieser Freund von Isabel verprügelt wurde, und nach der Sache mit Alberto und Vera, die verschwunden sind, da habe ich …«
»Mensch, kann es nicht einfach sein, dass Vera bei Alberto ist und nicht ans Telefon geht, weil seine Pflege gerade wichtiger
ist als alles andere?« Cassandra stand vom Tisch auf. Sie war ganz außer sich. »Du immer mit deinen Hirngespinsten. Du bildest
dir das alles doch nur ein!«
Hugo öffnete den Mund, um sich zu verteidigen, aber sie ließ ihm keine Gelegenheit. Ohne ein weiteres Wort stürzte sie hinaus.Der Kellner und die wenigen übrigen Gäste sahen ihr hinterher
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