Der 26. Stock
jetzt, bis sie eine Nachfolgerin für sie gefunden
haben. Ich mach das gar nicht gerne. Ist harte Arbeit.«
Isabel dachte, dass sie das nur zu gut wusste. Sie lächelte Cassandra zum Abschied zu und schloss die Tür hinter sich. Die
Sache mit den Bewerbungsgesprächen hatte Isabel überrascht. Sie war schon sehr lange die Beauftragte für Neueinstellungen
und hatte nicht damit gerechnet, dass Rai irgendetwas daran ändern würde. Wie auch immer, sie konnte Cassandra keinen Vorwurf
für etwas machen, das jemand anderer entschieden hatte. Am liebsten hätte sie bei Rai geklopft und eine Erklärung von ihm
verlangt, aber dann entschied sie sich dagegen. Es war nicht der richtige Moment dafür.
Die Türe zu Hugos chaotischem Büro stand wie immer offen, aber er war nicht da. Er machte sich nie die Mühe abzuschließen,
wenn er hinausging. »Ich habe hier nur Bücher und Zeitschriften«, hatte er einmal gesagt, »und wenn mir etwas gestohlen wird,
kann ich mich damit trösten, dass der Dieb es lesen und etwas daraus lernen wird.«
Isabel kehrte in ihr Büro zurück und ließ sich in den breiten Ledersessel fallen und fuhr den Rechner hoch. Dann wählte sie
auf ihrem Handy Hugos Nummer. Nach drei Klingelzeichen nahm er ab.
»Ja?« Hugos Stimme war fast ein Wispern.
»Hugo, ich habe vergessen, dir etwas zu sagen.«
»Ich ruf dich nachher zurück«, unterbrach er sie. »Ich kann jetzt nicht sprechen, tut mir leid.«
Isabel blieb keine Zeit zu antworten. Hugo hatte schon wieder aufgelegt. War er in einer Besprechung? Es machte ihr nichts
aus, dass die Sache mit dem Foto warten musste, aber sie hätte ihm gerne schon gesagt, dass Cassandra nicht mehr sauer war.
Auf dem Computerbildschirm blinkte das Symbol für eine neue interne Nachricht.
Personalabteilung: zuletzt eingestellte Kandidaten
Das war das Feedback, das Isabel alle zwei Wochen auf ihre Arbeit bekam. Eine Nachricht, aus der hervorging, welche von den
Bewerbern, die ihr Team interviewt hatte, am Ende eingestellt worden waren. In der Regel gab es wenig Überraschungen. Der
Personalabteilung dienten die Berichte über die Gespräche ja als wichtigste Orientierung. Diesmal jedoch sah die Nachricht
anders aus als sonst. Es war das erste Mal, dass Isabel eine so hohe Anzahl von Einstellungen sah. Sie überflog die Liste
und verglich sie mit ihren Notizen. Da musste irgendein Irrtum vorliegen. Sie rief in der Personalabteilung an. Nein, da lag
kein Irrtum vor. Einer der Personalmanager bestätigte ihr, die Kandidaten seien entsprechend Isabels Berichten ausgewählt
worden. Sie widersprach. Ihre Berichte endeten immer mit einer klaren Empfehlung für oder gegen die Einstellung des jeweiligen
Bewerbers, und einige der nun Eingestellten hatte sie mit deutlichen Worten abgelehnt.
»Na ja, Isabel, du weißt doch, dass die Sache anders aussieht, seit die neuen Einstellungskriterien eingeführt worden sind.
Du wirst dich daran gewöhnen müssen.«
»Wie bitte«, brach es aus ihr in einer Mischung aus Überraschung und Verärgerung heraus. Was wollte der Typ ihr da weismachen?
»Ich weiß nichts von irgendwelchen neuen Kriterien.«
»Äh …« Der Personalmanager zögerte ein wenig. »Isabel,wenn du darüber nicht informiert wurdest, solltest du wohl am besten mit deinem Abteilungsleiter reden.«
Isabel versuchte, ihrem Kollegen ein paar Informationen darüber zu entlocken, er weigerte sich jedoch, etwas preiszugeben,
und meinte nur, das Unternehmen wolle anscheinend die Einstellungsquote erhöhen. Dann entschuldigte er sich, er habe noch
einige Berichte zu lesen, und legte auf. Isabel war entrüstet. Alles deutete darauf hin, dass eine einzige Person für all
die Geschehnisse verantwortlich war. Rai würde einiges zu erklären haben.
Isabel konnte sich am Nachmittag kaum auf die Arbeit konzentrieren, aber sie wollte ihrem Chef keinen Vorwand bieten, ihr
das Leben noch schwerer zu machen. Die Berichte kosteten sie mehr Zeit als üblich. Bevor sie nach Hause ging, führte sie noch
ein paar Telefonate, doch sie fand kaum etwas Neues über Carlos heraus. Alle, die etwas über sein Privatleben wussten, sagten
das Gleiche. Seine Eltern seien schon tot gewesen, als er auszog. Um sieben versuchte sie es noch mit einem letzten Anruf.
Ihr ging durch den Sinn, dass Rais Beförderung immerhin ein Gutes hatte: Jetzt stand er wenigstens nicht mehr jeden Abend
auf der Matte und kontrollierte, dass man auch ja bis zur
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