Der 26. Stock
Ohne sich zu entkleiden, ließ sie sich einfach
fallen und schloss die Augen. Sie dachte nur noch an eines: schlafen. Vor ihrem geistigen Auge sah sie ihre Arbeitskollegin
Isabel. Sie war eine nette junge Frau, aber es gab zu vieles, was sie nicht wusste. Aber Isabel war jung und hatte einen Bruder,
den sie sehr gernhatte. Sie würde das alles verwinden, sich in einer anderen Stadt einen neuen Job suchen und wieder auf die
Füße kommen. Cassandra spürte, wie von weit her ein tiefes Gefühl der Einsamkeit sie überkam. Isabel hatte ihren Bruder. Sie
aber hatte gar niemanden. Niemand würde sich Sorgen machen, wenn sie nicht nach Hause kam. Sie fragte sich, wo ihr Mann wohl
steckte. Was machte er in diesem Augenblick? Vielleicht ging er mit einer anderen spazieren, Hand in Hand, oder er war alleine
in seiner Vorortwohnungund vermisste sie genauso wie sie ihn. Ihr kam in den Sinn, ihn anzurufen und ihm zu sagen, dass sie Sehnsucht nach ihm hatte,
aber sämtliche Kraft war aus ihren Armen gewichen. Draußen vor der Tür ging jemand über den Gang. Cassandras Sinne konzentrierten
sich auf das leise Schlurfen der Schritte auf dem Teppich …
Cassandra schreckte aus dem Schlaf hoch. Sie sah sich um. Ihre Augen schmerzten heftig. Durch die Ritzen im Vorhang drang
das letzte Tageslicht. Sie warf einen Blick auf die Uhr. Sie musste etwas über eine halbe Stunde geschlafen haben. Warum war
sie aufgewacht? Sie richtete sich auf und lauschte in die Stille hinein. Nichts. Das konnte nicht sein. Das war unmöglich.
Sie war nicht zu Hause, sie lag nicht in ihrem Bett. Sie konnte nicht davon aufgewacht sein, nicht schon wieder. Sie stand
auf und ging ins Bad, bemüht, so wenig Lärm zu machen wie möglich. Sie wusch sich das Gesicht, legte ihre Kleidung auf dem
Bidet ab und legte sich wieder hin. Ihre Lippen begannen zu zittern. Sie wartete. Das Fenster musste aus Doppelglasscheiben
sein. Man konnte weder den Verkehr noch die Leute auf der Straße hören. Sie schloss die Augen und zerbrach sich den Kopf,
wovon sie wohl aufgewacht sein könnte: ein Liftjunge, der Koffer über den Gang zog, ein zu laut eingestellter Fernseher oder … Babygeschrei. Jetzt hörte sie es ganz deutlich, so nahe, als wäre die gegenüberliegende Wand aus Papier. Die Schreie eines
Neugeborenen drangen schrill an ihr Ohr. So wie jede Nacht. Es konnte nicht sein. Es war unmöglich. Sie erwog, aufzustehen,
gegen die Wand zu hämmern, an der Tür des Nachbarzimmers zu klopfen und mit einer Beschwerde beim Hoteldirektor zu drohen,
aber sie hatte keine Kraft dazu. Und außerdem wusste sie, dass es zwecklos gewesen wäre. Es war dasselbe Weinen, genau dasselbe,
nervenzerreißend, unermüdlich. Mehrere Nächte lang war es aus der Nachbarwohnung gekommen. Das Zimmer nebenan würde wohl ebenso
leer stehen wie die Wohnung. Von den Nachbarn unter ihr hatte niemand das Geschrei gehört, und jetzt im Hotel würdees auch kein anderer hören. Das ließ nur einen Schluss zu. Zum ersten Mal in ihrem Leben musste sie erkennen, dass sie dabei
war, die Kontrolle zu verlieren. Sie versuchte, sich das Kissen auf die Ohren zu pressen, obwohl das nichts bringen würde.
Da blieb nur noch eines, was sie tun konnte. Sie stand auf, nahm ihre Handtasche und wühlte darin, bis sie ihre Nagelschere
fand. Es war, als würde sie sich auf einer Kinoleinwand zusehen. Im Bad drehte sie das heiße Wasser auf, spritzte sich ein
wenig davon auf die Ohren. Während sie die Spitze der Schere an die feine Membran ihres Trommelfells führte, hörte sie ein
neues Geräusch, das sich mit dem endlosen Babygeschrei mischte. Am Anfang erkannte sie es nicht. Es war halb Schrei, halb
irres Gelächter. Der Schmerz durchbohrte ihr Ohr, und bevor sie unter Krämpfen zu Boden sank, wurde ihr für einen Sekundenbruchteil
klar, dass sie es war, die da schrie und lachte. Sie hatte den Verstand verloren.
15
»Cass ist verschwunden.«
Isabel hob den Blick von der Bewerbungsmappe, die sie gerade durchsah. Hugo war eingetreten, ohne anzuklopfen. Er starrte
sie an und wirkte ziemlich aufgewühlt.
»Wie, verschwunden?«
»Sie ist heute Vormittag noch nicht da gewesen«, antwortete er, während er Platz nahm. »Sie hat auch nicht Bescheid gesagt,
dass sie nicht kommen würde. Ich habe es bestimmt fünfzigmal bei ihr zu Hause und auf dem Handy versucht, aber sie ist nicht
aufzufinden.«
Isabel legte die Mappe beiseite, ging zur Tür und
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