Der 26. Stock
weißt
du?«
In diesem Moment kam eine Krankenschwester herein und verkündete, die Besuchszeit sei nun gleich vorbei. Isabel stand auf
und stellte den Sessel wieder an seinen Platz. Dabei fiel ihr Blick auf die Frau, die mit Carlos das Zimmer teilte. Ihr schlohweißes,
glattes Haar lag auf dem Kissen ausgebreitet. Isabel trat noch einmal an Carlos’ Bett, beugte sich über ihn und küsste ihn
auf die Stirn, wie sie es jeden Abend tat, wenn ihr Bruder sich schlafen legte. Auch ihre Mutter hatte das immer gemacht;
sie hatte ihr einmal erklärt, jemanden auf die Stirn zu küssen, sei, wie wenn man dessen Gedanken küssen würde. Daran dachte
Isabel, als sie Carlos küsste, und sie wünschte sich, ihr Kuss möge einen Weg in seinen Geist finden, so dass er sich begleitet
fühlte.
Auf dem Korridor plauderte ein Arzt mit einem jungen Paar, ein alter Mann humpelte mit einer Gehhilfe auf und ab, ein Bärtiger
las Zeitung … Isabel ging schnellen Schrittes zum Aufzug. Sie war nicht gerne im Krankenhaus, unter Kranken und Ärzten in grünen und weißen
Kitteln. Sie hatte es eilig. Sonst wäre sie vielleicht aufmerksamer gewesen und hätte sich das junge Paar näher angesehen,
den Alten, den Mann mit dem Bart. Es wäre ihr vielleicht komisch vorgekommen, dass er stundenlang dort saß und eine Zeitung
las, deren Schlagzeilen über einen Monat alt waren.
14
Cassandras Van fädelte sich in den Verkehr ein. Den Wagen hatte sie seit gut drei Jahren. Sie und ihr Mann hatten damals entschieden, ein größeres
Auto anzuschaffen, nachdem der Arzt ihnen die Schwangerschaft bestätigt hatte. Zu dritt würde alles anders aussehen. Sie würden
geplante Reisen aufschieben müssen, die Wohnung umbauen … zahlreiche Veränderungen, die sie gerne in Kauf nahmen. Sie hatten diesen Moment schon seit langem herbeigesehnt. Schon
kurz nach der Hochzeit hatten sie beschlossen, dass sie ein Kind haben wollten. Aber die Natur hatte nicht mitgespielt. Diverse
Untersuchungen ergaben, dass es sich für Cassandra als schwierig erweisen könnte, schwanger zu werden. Als es dann trotzdem
auf natürlichem Wege klappte, nahmen beide die Nachricht mit Freude auf. Sie erfuhren, dass das Kind ein Junge werden würde,
und richteten ihr Leben ganz auf den Tag aus, an dem er zur Welt kommen sollte.
Doch diesen Tag gab es nie, und eine Welt brach für sie zusammen, als sich plötzlich herausstellte, dass doch niemand dazukommen
würde und dass eine Trennung bevorstand – die ihre. Cassandra kam aus ihren Schuldgefühlen nicht heraus. Ihr Mann sagte ihr
auf tausenderlei Weise, dass niemand Schuld an dem trug, was geschehen war, doch wenn er nachts wach lag, während sie sich
in Albträumen hin und her wälzte, starrte er an die Decke und begriff, dass sie recht hatte. Der Keim des Vorwurfs war da.
Beide sahen es voraus: Eines Tages würde er inmitten einer Auseinandersetzung die Nerven verlieren und ihr das Geschehene
vorhalten. Und das würde sie nicht ertragen. Es bedurfte keiner Anwälte, Richter oder Schriftsätze. Sie teilten alles auf,
und jederzog an ein anderes Ende der Stadt. Vielleicht würden sie sich eines Tages scheiden lassen, aber zurzeit sprach keiner von
beiden darüber.
Wie Dutzende von Fahrern wartete Cassandra darauf, trotz der Rushhour weiterzukommen. Kaum wechselte eine Ampel auf Grün,
wurde die Straße vom schrillen Klang der Hupen erfüllt, die die vordersten Autos drängten, sich gefälligst zu beeilen. Das
Gehupe hallte in Cassandras Schädel wider. Sie war hundemüde.
Eine Dreiviertelstunde später war sie endlich zu Hause. Sie musste unbedingt schlafen. Noch eine Nacht wie die letzte würde
sie nicht durchstehen. Aber etwas sagte ihr, dass das Gleiche passieren würde wie immer, wenn sie sich jetzt ins Bett legte.
Da kam ihr ein Gedanke. Noch im Mantel ging sie wieder aus dem Haus.
Ein paar Hundert Meter weiter steuerte sie zielstrebig auf eine breite Glastür zu. Die beiden Flügel öffneten sich automatisch.
Drinnen sah sie sich nach der Rezeption um. Die Empfangsdame stellte ihr nicht allzu viele Fragen. Name und Ausweis, das Übliche
in jedem Hotel. Cassandra bekam den Zimmerschlüssel ausgehändigt und ging zum Lift. Das Zimmer war geräumig und hatte einen
Fernseher, ein Bad und einen Kleiderschrank mit eingebautem Safe, aber das alles interessierte sie nicht. Sie schloss die
Tür und stolperte auf das große, mit cremefarbenen Laken bezogene Bett zu.
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