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Der 26. Stock

Titel: Der 26. Stock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Enrique Cortés
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Cassandra steckte den Kopf
     hindurch.
    »Isabel!«, rief sie. Isabel trat näher. »Wie lange arbeitest du schon im Turm?«
    »Fast vier Jahre«, antwortete Isabel überrascht.
    »Und man hat dir mehrmals eine Beförderung angeboten. Warum hast du eigentlich abgelehnt?«
    Isabel zögerte kurz. Sie verstand nicht, warum Cassandra ihr die Frage stellte. Sie hatten sich schon bei anderer Gelegenheit
     über das Thema unterhalten.
    »Ich mag meinen Job.«
    Cassandra nickte und senkte nachdenklich den Blick.
    »Ich weiß nicht, ob du das weißt, aber auch mir haben sie schon mehrmals eine Beförderung angeboten«, sagte sie. Sie sah Isabel
     an. »Und Hugo ebenfalls. Du solltest dich fragen, warum wir nicht angenommen haben.«
    Cassandra wandte sich wieder nach vorne zur Schranke. Es war deutlich zu sehen, dass sie noch keine Antwort erwartete, aber
     Isabel erwiderte das Erste, das ihr in den Sinn kam.
    »Aus demselben Grund wie ich, oder? Hugo sagt jedenfalls auch, dass er seinen Job sehr spannend findet, und ich nehme an,
     dass du   …«
    Cassandra schüttelte den Kopf. »Kalt, eiskalt.«
    Das war das Letzte, was Isabel hörte, bevor das Fenster sich schloss und der Wagen auf die Rampe fuhr. Perplex sah sie ihr
     nach. Was hatte sie ihr damit sagen wollen? Warum hatte keiner der beiden sich befördern lassen wollen?
    Als Isabel kurz darauf ebenfalls das Firmenareal verließ, zeichnete sich im Rückspiegel der Büroturm gegen den rötlichen Abendhimmel
     ab. Plötzlich wurde sie von dem unangenehmen Gefühl befallen, das Gebäude verabschiede sich von ihr. »Tschüss, Isabel, bis
     morgen, morgen kommst du wieder, nicht wahr? Aber klar kommst du wieder, wo solltest du auch sonst hingehen?« Sie schüttelte
     den Kopf und trat aufs Gaspedal. Nur weg von hier.
     
    Der riesige Krankenhausparkplatz war fast leer. Die Leute hatten das Wochenende genutzt, um ihre Pflichtbesuche abzuhaken.
     Von Montag bis Donnerstag hatten sie andere Dinge im Kopf, und erst am Freitag würden sie wiederkommen. Isabel parkte ganz
     in der Nähe des Eingangs. Während sie auf den Haupteingangzuging, holte sie das Handy heraus. Dieselbe Mailboxansage. Hugo hatte sein Mobiltelefon noch immer ausgeschaltet. Isabel
     zuckte mit den Schultern. Wahrscheinlich hatte er eine Kundenbesprechung und saß jetzt mit dem Betreffenden beim Abendessen,
     in einem der typischen Lokalitäten für partylustige Manager, mit Karaoke und einem Stripteaselokal gegenüber. Isabel sah auf
     die Uhr. Sie hätte gerne ihren Bruder angerufen, aber er war noch im Unterricht. Er hatte die Sache mit Carlos augenscheinlich
     gut verdaut, aber sie wollte sichergehen. Schließlich war es für beide ein erschütterndes Erlebnis gewesen.
    Carlos lag in derselben Position wie am Vortag, als hätte man ihn seitdem nicht bewegt. Dabei mussten ihn die Krankenschwestern
     mehrmals aufgedeckt und umgedreht haben, um ihn zu waschen. Er sah aus, als schliefe er nur. Auf den Wangen und am Kinn hatte
     er mittlerweile einen Bartschatten, und Isabel fragte sich, ob die Krankenschwestern männliche Komapatienten nicht rasierten.
     Die Sessel waren wieder an ihren Platz gerückt worden. Sie stellte sich einen zurück an Carlos’ Bett und setzte sich. Dann
     nahm sie seine Hand, die auf der weichen, tiefblauen Decke ruhte.
    »Hallo, Carlos, wie geht es dir?«, fragte sie leise. »Ich komme gerade von der Arbeit. Dich ist niemand besuchen gekommen,
     oder? Aber ich werde jeden Tag kommen. Bis du aufwachst. Und wenn du wieder gesund bist, dann gehen wir in die Kneipe, in
     die du mich mitgenommen hast, weißt du noch? Das ›Lennon‹. Und davor gehen wir noch in ein Restaurant im Zentrum, das ich
     ganz toll finde. Oder ins Kino, was meinst du? Obwohl, ich weiß noch gar nicht, was für Filme du magst. Wenn wir den gleichen
     Geschmack haben, gehen wir zusammen in alle Filme, die uns interessieren, und wenn nicht, dann mal in einen von dir, mal in
     einen von mir, ja? Warum hast du mich eigentlich mit deinen Eltern angelogen? Hast du dich geschämt, zuzugeben, dass du allein
     bist? Das bin ich auch, abgesehen von Teo. Er mag dich übrigens gern, das hat er mir gestern vor dem Schlafengehen noch gesagt.
     Und nicht nur, weil du ihm die Kamera geschenkt hast. Erfand dich schon sympathisch, bevor er dich überhaupt kennengelernt hat, ich nehme an, weil er weiß, dass   … dass ich dich mag. Du musst wieder gesund werden und ihn mal auf dem Motorrad mitnehmen. Ich hab’s ihm versprochen,

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