Der 26. Stock
spürte, wie die hoffnungsvolle Stimmung, in der sie aufgestanden war, sichlangsam wieder in Verzweiflung wandelte, in ein Gefühl der Trauer und Schwermut. Sie stand auf, steckte das Handy ein und
betrat das Postamt. Es war ihr jetzt noch dringlicher, herauszufinden, was es mit dem Schlüssel auf sich hatte. Nicht nur,
um das Schließfach zu öffnen, sondern auch, weil Carlos es eigens für sie eingerichtet hatte, so wie er ihr vor einer Ewigkeit
den Kaffee geschickt hatte. Sie musste eine Antwort finden.
Im Postamt standen noch keine Kunden. Isabel ging an den nächsten Schalter und zeigte den Schlüssel vor. Der Beamte warf einen
Blick darauf und zeigte Isabel, wo das Fach mit der Nummer 1109 zu finden war. Isabel steckte den Schlüssel ins Schloss. Sie
spürte, wie ihr die Hände zitterten. Zwei Umdrehungen, und die Tür sprang auf. In dem Fach lag ein gepolsterter brauner Umschlag.
Isabel zog ihn heraus, sperrte das Schließfach wieder zu und steckte den Schlüssel ein. Dann setzte sie sich auf eine der
Wartebänke. Der Umschlag war unbeschriftet. Sie riss ihn auf und breitete den Inhalt auf ihrem Schoß aus. Das Erste, was sie
sah, war eine unbeschriftete CD. Was sie genau enthielt, würde sie auf ihrem PC im Büro sehen. Außerdem waren da noch zwei in der Mitte gefaltete Blätter.
Auf dem ersten stand mit rotem Filzstift eine Adresse. Isabel kannte sie bereits: Calle del Olvido 64. Schon wieder, nur diesmal in Carlos’ Schrift. Warum hatte er sie zweimal hinterlegt? Hatte er schon gewusst, dass sie beim
ersten Versuch nichts erreichen würde, und sie noch einmal darauf hinweisen wollen, dass dort etwas Wichtiges zu finden war?
Isabel nahm den zweiten Zettel und faltete ihn langsam auf. Auf dem Blatt standen einige Zeilen in Carlos’ sauberer Handschrift.
Isabel spürte, wie das Zittern von ihren Händen auf den ganzen Körper übergriff. Mit Mühe hielt sie den Zettel still und las:
Liebe Isabel,
wenn Du das hier liest, ist mir wahrscheinlich etwas Schlimmes passiert, wie schlimm, weiß ich nicht. Ob ich noch am Leben
bin? Ich hoffe es. Ich bin nicht traurig und habe auch keine Angst. Ich habe mich aus freien Stücken auf diese Sache eingelassenund bin entschlossen, so weit zu kommen wie möglich. Mehr möchte ich Dir nicht erzählen. Bewahr diese CD sorgfältig auf. Zeig
sie keinem, dem Du nicht voll und ganz vertraust. Und bitte sieh Dir den Inhalt nicht selber an. Das würde Dich nur in Schwierigkeiten
bringen. Was die Adresse angeht – ich glaube, das wird Dir guttun. Danke für die wundervollen Stunden, die Du mir geschenkt
hast. Ich hoffe, Dir eines Tages noch mehr sagen zu können.
Alles Liebe,
Carlos
PS: Das, was passiert ist, hat mit der Firma zu tun. Das Beste, was Du tun kannst, ist, dort zu kündigen. Geh weg und such
Dir einen anderen Job. Zac wird Dir helfen, ihm kannst Du vertrauen. Sag ihm, die Antwort liegt auf dem Wasser. Er wird wissen,
was gemeint ist.
Isabel zog eine Augenbraue hoch. Auf eine Frage zumindest hatte sie jetzt eine Antwort. Hugos und ihre Mutmaßungen waren berechtigt.
Wenn Carlos im Krankenhaus lag, dann aus denselben Gründen, die zu Albertos Verschwinden geführt hatten. Dass Cass sich das
Trommelfell durchbohren musste, hatte bestimmt auch damit zu tun. Isabel steckte den Umschlag samt Inhalt in ihre Aktentasche
und verließ das Postamt. Sie sah auf die Uhr. Inzwischen war sie spät dran. Bald würden ihre Mitarbeiter sich fragen, wo sie
blieb. Auf dem Weg zur Tiefgarage spürte sie, wie ein Teil von ihr danach strebte, den Ereignissen nachzugehen, während ein
anderer Teil auf die Warnungen hören und weit weggehen oder wenigstens eine neue Stelle suchen wollte. Sie musste mit Hugo
darüber reden.
Zwanzig Minuten später erreichte sie das Büro. Unterwegs klingelte ein paarmal ihr Handy. Seit sie in der Firma arbeitete,
war sie erst drei oder vier Mal zu spät gekommen, und eine so ungeduldige Reaktion hatte sie noch nie erlebt. Sie nahm ihre
Arbeitstasche vom Beifahrersitz und stieg aus dem Wagen. Inder Tiefgarage gab es mehr unbesetzte Plätze als sonst. Anscheinend hatte so mancher Lust bekommen, zu Fuß zur Arbeit zu gehen.
Oder vielleicht kamen auch andere zu spät. Isabel ging zu den Aufzügen. Erst als sich die Türen schlossen, fiel ihr ein, was
ihrem Bruder am Abend zuvor passiert war. Sie sah sich um, aber sie wusste, dass sie nichts finden würde. Es lag ohnehin auf
der
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