Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der 26. Stock

Titel: Der 26. Stock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Enrique Cortés
Vom Netzwerk:
einer Weile sprach er dann doch.
    »Ich bin gestolpert und hingefallen.«
    »Aber wie denn?«, fragte Isabel. »Warum? Hat der Aufzug so gewackelt?«
    Teo schüttelte den Kopf.
    »Ich weiß nicht«, sagte er. »Ich kann mich nicht erinnern.«
    »Wie denn das, mein Kleiner?«
    Mit einer plötzlichen Bewegung machte sich Teo von seiner Schwester los. Er sah ihr ins Gesicht und sagte so wütend, wie Isabel
     ihn noch nie gesehen hatte:
    »Ich bin kein Kleiner.«
    Isabel erstarrte vor diesem Blick, der ihr das Gefühl gab, jemand ganz Neuen zu entdecken, einen Jungen, der zwar dasselbeGesicht hatte und dieselbe Kleidung trug wie ihr Bruder, der aber doch jemand ganz anderes war.
    »Teo, du musst mir erzählen   …«
    »Ich will schlafen«, fiel er ihr ins Wort.
    Isabel gelang es nicht, ihm noch irgendetwas zu entlocken. Sie beugte sich zu ihm, um ihm einen Gutenachtkuss zu geben, doch
     Teo verkroch sich unter der Decke. Da gab Isabel auf. Sie würde vorerst nicht weiter in ihn dringen. Sie schaltete das Licht
     aus und verließ das Zimmer. Die Tür ließ sie wie immer angelehnt. Dann ging sie zurück ins Wohnzimmer.
    Neben dem Telefon lagen das Telefonbuch, ein Bleistift und der Zettel. Sie hatte angefangen, alle Krankenhäuser anzurufen,
     um sich nach Cassandra zu erkundigen, doch nirgends wusste man etwas von ihr. Isabel versuchte es auch bei Vera, doch wie
     Hugo gesagt hatte, war sie nicht zu erreichen.
    Es war spät geworden, und Isabel beschloss, ins Bett zu gehen. Am Morgen würde sie noch einmal mit Teo reden, um zu erfahren,
     was mit ihm los war, warum er eine solche Wut hatte. Vielleicht lag es ja daran, dass sie seit seinem Geburtstag so wenig
     Zeit für ihn gehabt hatte. Es war so viel passiert   … Sie schaltete das Licht aus und dachte an Carlos. Morgen würde sie ihn sicher nicht besuchen können. Sie hatte wahnsinnig
     viel zu tun. Isabel kuschelte sich unter die Decke. Der Schlaf übermannte sie, doch ein lauter Knall aus dem Flur ließ sie
     hochschrecken. Sie verstand auf Anhieb, was das war: eine Tür, die zugeschlagen worden war. Die Zimmertür ihres Bruders. Zum
     ersten Mal, seit Isabel ihn kannte, hatte er sie zugemacht.
     
    O’Reilly fuhr zurück zum Büroturm, wo seine Mitarbeiter wahrscheinlich inzwischen mit der Arbeit durch waren. Gute Leute,
     alle miteinander, die ihn stets mit Respekt behandelten, und er schätzte sie sehr, vom ersten bis zum letzten Mann. Darum
     hatte er ja auch die Unfallversicherung abgeschlossen und stellte ihnen hochwertiges Putzmaterial zur Verfügung. Er achtete
     peinlich genau darauf, dass die Sicherheitsvorschriften eingehalten wurden,um Arbeitsunfälle zu vermeiden. Es war ihm sehr wichtig gewesen, Teo deutlich zu machen, dass seine Geschichte nicht stimmte.
     Sie konnte nicht stimmen, und ebenso wenig die Gerüchte, die seit einigen Wochen kursierten und denen zufolge sich in dem
     Gebäude seltsame Dinge taten. Sie machten die Leute nervös und behinderten sie bei der Arbeit. Früher oder später würde niemand
     mehr alleine auf seinem Stockwerk bleiben und putzen wollen. Aber was sollte das ganze Gerede? O’Reilly lächelte zufrieden.
     Er war sicher, dass Teo bald einsehen würde, dass er sich getäuscht hatte. Und er, O’Reilly, würde ihn mit offenen Armen empfangen.
     Ja, er war ein guter Junge. Während O’Reilly in die Tiefgarage fuhr, dachte er mit Bedauern, dass Teo so etwas nicht verdient
     hatte. Er wusste gar nicht, wie recht er damit hatte.
     
    Nachdem Teo die Tür zugeworfen hatte, ging er im dunklen Zimmer auf und ab. Dann öffnete er seinen Rucksack und kramte im
     Mondlicht, das durchs Fenster hereinfiel, nach seinem Overall. Er nahm etwas aus der Tasche und legte es unter sein Kissen.
     Dann zog er sich aus und vergrub sich unter der Decke. Mr O’Reilly hatte recht. Er konnte seiner Schwester nichts davon erzählen,
     denn sonst würde sie sich Sorgen machen und traurig sein. Aber er wusste, was er gesehen hatte, und sein Chef würde ihm das
     nicht ausreden können. Man glaubte ihm nicht; er wurde gut behandelt, aber man glaubte ihm nicht. Im Grunde dachten sie ja
     doch alle, er sei dumm. Sie dachten, er sei dumm, und hatten Mitleid mit ihm. Und jetzt glaubten sie ihm nicht. Wenn er Dolores
     gewesen wäre oder gar Mr O’Reilly persönlich, hätte jeder seinen Worten Glauben geschenkt, aber bei ihm sagten sie, das seien
     nur die Hirngespinste eines armen Jungen. Nein, die Frau gab es nicht, er war nicht im Aufzug bis fast

Weitere Kostenlose Bücher