Der 3. Grad
diese Arbeit jetzt schon seit zehn Jahren.« Claire ließ sich auf den Stuhl vor meinem Schreibtisch sinken und schüttelte den Kopf. »In all der Zeit habe ich noch nie eine Leiche vor mir gehabt, deren Inneres so ausgesehen hat.«
»Ich höre«, sagte ich und beugte mich vor.
»Ich weiß noch nicht einmal, wie ich das überhaupt nennen soll«, fuhr sie fort. »Das war eine einzige gallertartige Masse da drin. Totaler Gefäß- und Lungenkollaps. Blutungen im gesamten Verdauungstrakt. Massive Nekrose von Milz und Nieren...
Völlige Zersetzung
, Lindsay«, fügte sie hinzu, als sie meinen verständnislosen Gesichtsausdruck registrierte.
Ich zuckte mit den Achseln. »Es handelt sich also um irgendein Gift, Claire?«
»Ja, aber mit einer Toxizität, die alles übertrifft, was ich je gesehen habe. Ich habe ein paar Fachzeitschriften durchgeblättert. Ich hatte mal ein Kind zu untersuchen, bei dem ein ähnlicher Fall von Gefäßkollaps und Ödemen vorlag; wir haben das damals auf eine negative Reaktion auf – man höre und staune – Rizinusöl zurückgeführt. Ich denke also gleich an Rizinussamen. War aber nicht der Fall. Es ist
Rizin
, Lindsay! Lässt sich relativ leicht in großen Mengen herstellen. Ein Eiweißstoff, der aus den Samen des Rizinusstrauchs gewonnen wird.«
»Und der ganz offensichtlich giftig ist, was?«
»
Hochgiftig
. Um ein Mehrtausendfaches stärker als Zyankali«, erwiderte Claire nickend. »Wird schnell vom Organismus aufgenommen. Schon eine sehr geringe Menge führt zum Herzstillstand. Es kann auch der Luft beigemengt werden. Aber ich habe mir gedacht, Rizin allein würde einen Menschen nicht derart zurichten, es sei denn...«
»Was?«
»Es sei denn, es würde dem Organismus in solchen Unmengen zugeführt, dass der Prozess der Zersetzung um das Zehnfache... um das Fünfzigfache beschleunigt wird. Dieser Bengosian war praktisch schon tot, ehe ihm das Champagnerglas aus der Hand fiel. Rizin tötet über Stunden, ja Tage hinweg. Es fängt an mit schweren, grippeartigen Warnsymptomen, Magen-Darm-Schmerzen; die Lungen füllen sich mit Flüssigkeit. Dieser Typ kam um halb zwölf ins Hotel zurück, und um drei Uhr wurde der Mord gemeldet. Um drei.«
»Wir haben das zerbrochene Champagnerglas auf dem Boden gefunden und ins Labor geschickt. Die Substanz lässt sich doch nachweisen, nicht wahr?«
»Den Nachweis sehe ich nicht als das Problem, Lindsay. Warum tötet man einen Menschen auf diese Art und Weise, wenn ein
Zehntel
der Dosis ausgereicht hätte?«
Ich erkannte, worauf Claire hinauswollte. Wer auch immer die Morde begangen hatte, musste sich eingehend mit den Opfern beschäftigt haben. Beide Morde waren geplant, ja inszeniert. Und die Mörder besaßen Waffen, die ihnen erlaubten, ihren Terror weiter zu auszudehnen.
Wir sind in euren Häusern, an euren Arbeitsplätzen
... Was sie uns sagen wollten, war: Wir haben das Zeug. Wir können Rizin in gewaltigen Mengen verbreiten, wenn wir nur wollen. »Mein Gott, es ist eine Warnung, Claire. Eine Kriegserklärung.«
28
Jetzt machten wir alle Stellen mobil. Die Medizinische Sondereinsatzgruppe. Das Amt für öffentliche Sicherheit. Das örtliche FBIBüro. Wir hatten es nicht mehr mit einem normalen Mordfall zu tun. Das war Terrorismus.
Die Spur des vermissten Kindermädchens hatte sich verloren. Jacobi und Cappy, die mit dem Foto der jungen Frau die Studentenlokale der Bay Area abgeklappert hatten, waren mit leeren Händen zurückgekommen.
Eine
Maßnahme hatte immerhin den gewünschten Effekt: der Artikel über X/L, den Cindy im
Chronicle
veröffentlicht hatte. Bedrängt von Reporterhorden und bedroht von Vorladung und Durchsuchungsbeschluss ließ mir Chuck Zinn ausrichten, dass er mit uns ins Geschäft kommen wolle. Eine Stunde später kreuzte er in meinem Büro auf.
»Sie können Ihren Zugang haben, Lieutenant. Ich kann Ihnen sogar die Mühe ersparen. Mort hat tatsächlich in den letzten Wochen eine Reihe von E-Mails erhalten. Wie übrigens der gesamte Vorstand. Niemand von uns hat diese Mails allzu ernst genommen, aber wir haben unseren hauseigenen Sicherheitsdienst darauf angesetzt.«
Zinn schnallte seine schicke Ledertasche auf und nahm eine orangefarbene Mappe heraus, die er mir über den Tisch zuschob. »Sie sind alle da drin, Lieutenant. Nach Eingangsdatum geordnet.«
Ich schlug die Mappe auf, und der Schock fuhr mir in die Glieder.
An den Vorstand von X/L Systems:
Am 25. Februar hat Ihr Geschäftsführer Morton Lightower 762000
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