Der 3. Grad
fetten Buchstaben: W ER I ST D ER N ÄCHSTE ?
Ich studierte gerade einen Bericht der Spurensicherung über den Mord an Jill, als überraschend Joe Santos und Phil Martelli an meine Tür klopften. »Wir haben gerade gehört, was mit Ms Bernhardt passiert ist. Tut uns wirklich Leid«, sagte Santos.
Ich warf die Akte auf den Tisch und nickte ihnen dankbar zu. »Nett, dass Sie vorbeigekommen sind.«
Martelli zuckte mit den Achseln. »Das ist eigentlich nicht der Grund, weshalb wir hier sind, Lindsay.«
»Wir haben beschlossen, uns noch mal die Akten über diese Hardaway-Geschichte vorzunehmen«, sagte Santos und setzte sich. Er nahm einen braunen Umschlag aus der Tasche. »Wir haben uns gedacht, wenn er schon hier in der Gegend war, dann müsste er doch hier und da mal aufgefallen sein – bei seiner Vorgeschichte.«
Santos zog einen Stapel Schwarzweißfotos aus dem Umschlag. »Die sind von einer Demo, die wir observiert haben. Zweiundzwanzigster Oktober. Vor sechs Monaten.«
Die Aufnahmen zeigten Ausschnitte der protestierenden Menge, keine Großaufnahmen einzelner Teilnehmer. Aber auf einem war ein Gesicht eingekreist. Helles Haar, schmales Kinn, schütterer Bart. Dunkle Armeejacke, Jeans, ein Schal, der ihm bis zu den Knien hing.
Das Blut schoss mir in den Kopf. Ich stand auf und ging zu meiner Pinnwand, um das Foto mit den fünf Jahre alten FBIAufnahmen aus Seattle zu vergleichen.
Stephen Hardaway
.
Der Mistkerl war vor sechs Monaten hier in der Stadt gewesen.
»Und jetzt wird's richtig interessant.« Phil Martelli zwinkerte mir zu.
Er breitete noch einen Stoß Fotos auf dem Schreibtisch aus. Eine andere Demonstration. Wieder Hardaway. Aber diesmal stand er neben einem Mann, den ich kannte.
Roger Lemouz.
Hardaway hatte ihm den Arm um die Schultern gelegt.
73
Eine halbe Stunde später parkte ich in der Durant Avenue am Südeingang der Universität. Ich stieg aus und sprintete zur Dwinelle Hall, wo Lemouz sein Büro hatte. Der Professor war da. Angetan mit einem weißen Leinenhemd und einer Tweedjacke, redete er auf eine Studentin mit wallenden roten Haaren ein.
»Die Party ist aus«, sagte ich.
»Ah, Madam Lieutenant.« Er lächelte. Dieser schnöselige Akzent – Eton oder Oxford oder weiß der Himmel was. »Ich habe Annette hier gerade erklärt, dass laut Foucault die gleichen historischen Kräfte, die Klassengesellschaften entstehen lassen, sich auch auf das Geschlechterverhältnis auswirken.«
»Die Vorlesung ist beendet, Rotschopf.« Ich warf der Studentin einen Blick zu, der besagte:
In zehn Sekunden will ich dich hier nicht mehr sehen
. Ungefähr so lange brauchte sie tatsächlich, um ihre Bücher zusammenzuraffen und zu verschwinden. Immerhin besaß sie den Schneid, mir im Hinausgehen noch den ausgestreckten Mittelfinger zu zeigen. Ich erwiderte den höflichen Abschiedsgruß.
»Ich bin hoch erfreut, Sie wieder zu sehen.« Scheinbar ungerührt schob Lemouz seinen Stuhl vom Schreibtisch zurück. »Angesichts der bedauerlichen Meldungen in den Nachrichten heute Morgen fürchte ich, dass das Thema der Stunde eher die Tagespolitik als die Entwicklung der Frauenfrage sein wird.«
»Ich glaube, ich habe Sie falsch eingeschätzt, Lemouz.« Ich blieb stehen. »Ich hatte Sie bisher nur für einen aufgeblasenen, unbedeutenden kleinen Agitator gehalten, und jetzt stellt sich heraus, dass Sie zu den Hauptakteuren gehören.«
Lemouz schlug die Beine übereinander und lächelte mich herablassend an. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich weiß, worauf Sie hinauswollen.«
Ich nahm den Umschlag mit Santos' Fotos heraus.
»Wissen Sie, was ich wirklich prickelnd finde, Lemouz? Dass
ich
diejenige bin, die verhindern kann, dass das DHS Ihnen aufs Dach steigt. Ich muss denen nur Ihren Namen und Ihre öffentlichen Äußerungen melden, und schon kann ich Sie das nächste Mal in einer Gefängniszelle besuchen.«
Lemouz lehnte sich mit einem amüsierten Lächeln in seinem Stuhl zurück. »Und
warum
wollen Sie mich warnen, Lieutenant?«
»Wer sagt denn, dass ich Sie warne?«
Sein Gesichtsausdruck schlug um. Er hatte keine Ahnung, was ich gegen ihn in der Hand hatte. Das gefiel mir.
»Was ich so erheiternd finde« – Lemouz schüttelte den Kopf –, »ist, wie Ihre hochheilige Verfassung einerseits so blind ist, wenn es um Menschen in diesem Lande geht, die einen Tschador tragen oder den falschen Akzent haben, und wie andererseits sofort großartig getönt wird von wegen Bedrohung der freien Gesellschaft, wenn es
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