Der 3. Grad
um ein paar habgierige Wirtschaftsbosse und eine hübsche Staatsanwältin geht.«
Ich tat so, als hätte ich seine letzte Bemerkung nicht gehört.
»Ich möchte Ihnen etwas zeigen, Lemouz.«
Ich öffnete den Umschlag und breitete die FBI-Fotos von Stephen Hardaway auf dem Schreibtisch aus.
Lemouz zuckte mit den Achseln. »Ich weiß nicht. Vielleicht habe ich ihn schon mal gesehen... Wo, weiß ich nicht. Studiert er hier an der Universität?«
»Sie haben mir nicht zugehört, Lemouz.« Ich knallte ihm ein weiteres Foto hin. Und ein zweites. Ein drittes. Die Aufnahmen, die Santos und Martelli gemacht hatten. Sie zeigten Hardaway an seiner Seite; auf einem hatte er den Arm um die Schultern des Professors gelegt. »Wie finde ich ihn, Lemouz?
Wie
?
«
Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Diese Aufnahmen sind schon etwas älter. Ich glaube, er war ein Professor, der im Zusammenhang mit den Anschlägen vom 11. 9. verhaftet wurde. Letzten Herbst. Er ist bei ein paar unserer Kundgebungen dabei gewesen. Seitdem habe ich ihn nicht mehr gesehen. Ich kenne den Mann eigentlich gar nicht.«
»Das reicht mir nicht«, hakte ich nach.
»Ich weiß es nicht. Das ist die Wahrheit, Lieutenant. Er kam von irgendwo aus dem Norden, wenn ich mich recht entsinne. Eugene? Seattle? Er hat sich eine Weile hier herumgetrieben, aber es schien ihn alles zu langweilen.«
Ausnahmsweise glaubte ich Lemouz. »Unter welchem Namen kannten Sie ihn?«
»Nicht Hardaway. Malcolm irgendwas. Malcolm Dennis, glaube ich. Ich weiß nicht, wo er jetzt ist. Keine Ahnung.«
Ein Teil von mir genoss es, Lemouz' aalglatte, überhebliche Fassade bröckeln zu sehen. »Eines muss ich noch wissen. Und das bleibt unter uns, okay?«
Lemouz nickte. »Selbstverständlich.«
»Der Name August Spies. Kennen Sie ihn?«
Lemouz blinzelte. Die Farbe kehrte in sein Gesicht zurück. »So nennen sie sich also?«
Ich setzte mich auf einen Stuhl und rückte ganz nahe an ihn heran. Wir hatten den Namen bislang noch nicht preisgegeben.
Und er wusste Bescheid
. Ich sah es ihm am Gesicht an.
»Sagen Sie es mir, Lemouz. Wer ist August Spies?«
74
»Haben Sie schon einmal von dem so genannten Haymarket-Massaker gehört?«, fragte er mich, als hätte er es mit einer seiner Studentinnen zu tun.
»In Chicago, meinen Sie?«
»Sehr gut, Lieutenant.« Lemouz nickte. »Noch heute erinnert dort eine Statue an die Ereignisse. Am 1. Mai 1886 zog eine gewaltige Arbeiterdemonstration über die Michigan Avenue in Chicago. Es war die bis dahin größte Kundgebung der Arbeiterschaft in der Geschichte der Vereinigten Staaten. Achtzigtausend Arbeiter, darunter Frauen und Kinder. Bis auf den heutigen Tag wird der erste Mai rund um den Globus als offizieller Feiertag der Arbeit begangen. Überall«, fügte er mit spöttischem Grinsen hinzu, »
außer in den USA natürlich
.«
»Kommen Sie zur Sache. Die Politik interessiert mich nicht.«
»Es war eine friedliche Demonstration«, fuhr Lemouz fort, »und im Lauf der nächsten Tage traten immer mehr Arbeiterinnen und Arbeiter in den Streik und versammelten sich. Und dann, am dritten Tag, schoss die Polizei in die Menge. Zwei Demonstranten wurden getötet. Am nächsten Tag wurde eine weitere Kundgebung organisiert. Am Haymarket Square, in der Randolph Street und in der Des Plaines Street.
In zornigen Reden wurde die Regierung verdammt. Der Bürgermeister wies die Polizei an, die Menge zu zerstreuen. Einhundertsechsundsiebzig Chicagoer Polizisten marschierten in einer Phalanx auf dem Platz auf und stürmten mit gezogenen Knüppeln auf die Menge ein. Dann explodierte plötzlich eine Bombe, worauf die Polizei das Feuer eröffnete. Als die Staubwolken sich verzogen hatten, lagen sieben Polizisten und etliche Demonstranten tot am Boden.
Die Polizei brauchte Sündenböcke, und so wurden einfach acht Arbeiterführer einkassiert, von denen manche an dem betreffenden Tag gar nicht dort gewesen waren.«
»Worauf läuft das Ganze hinaus?«
»Einer von ihnen war ein deutschstämmiger Journalist, ein gelernter Polsterer namens August Spies. Man stellte die Männer vor Gericht, und vier von ihnen, darunter Spies, wurden schließlich ›am Halse aufgehängt, bis der Tod eintrat‹. Später wurde einwandfrei nachgewiesen, dass Spies nichts mit dem Bombenwurf zu tun hatte. In seiner Rede vom Schafott aus sagte Spies: ›Wenn Sie glauben, dass Sie die Arbeiterbewegung ausrotten können, indem Sie uns hängen, dann hängen Sie uns. Der Boden unter
Weitere Kostenlose Bücher