Der 50-50 Killer
übermüdet, und er saß zusammen mit Greg an dem Computer auf der linken Seite. Auf dem Bildschirm hatte Simon von seinem Bus bei Scott und Jodies Wohnung aus mit uns Verbindung aufgenommen.
»Den ganzen Wald bei diesem Wetter?«, sagte er und hob die Augenbrauen. Er klang immer noch so frisch – und sah auch so aus – wie heute Morgen, als er mich in Kevin Simpsons Haus begrüßt hatte. »Donnerwetter!«
Mercer war nicht in Stimmung für Widerspruch, mochte dieser auch noch so dezent sein.
»Was hast du dort für uns?«
»Wir kommen ganz gut voran. Ich erkläre euch die Bilder, die wir gemacht haben. Hast du die Datei geöffnet, Greg?«
»Sofort.«
Simon hatte bereits einen Anfangsbericht zu den Dingen angelegt, die sein Spurensicherungsteam in Scotts Wohnung gefunden hatte. Greg suchte mit einigen Mausklicks die Fotos und das Videomaterial, das wir uns anschauen sollten. Das erste aufgerufene Bild zeigte das Haus von außen. Es sah aus wie ein großes H, das im Schnee auf den Rücken gefallen war.
»Sechs Wohnungen«, erklärte Simon. »Zwei auf jedem Stockwerk. Banks und seine Freundin wohnen links unten. Zugang durch die Tür in der Mitte und dann zu jeder Wohnung durch zentrale Flure und das Treppenhaus.«
»Also keine Speicher oder Dachböden, wo er sich verstecken konnte?«, fragte Mercer.
»Nichts Derartiges, nein. Aber jede Menge Hinweise, dass er seine anderen Tricks angewendet hat. Moment.«
Simon fing an seinem Standort an, Befehle in den Computer einzugeben. Gleich danach war für uns eine Serie von kleinen Bilddateien auf dem Hauptmonitor zu sehen. Greg öffnete sie eine nach der anderen und stellte sie nebeneinander. Fotos von aufgeschraubten Steckdosen, die Kunststoffabdeckungen lagen auf dem Teppich. Aus der Decke gerissene Verteilerdosen für die Lampen, herausgenommene Schubladen, umgeworfene Kisten.
»Bisher hat er immer alles aufgeräumt«, sagte Greg.
Es war das genaue Gegenteil von dem, was an früheren Tatorten gefunden worden war. Zuerst hatte er uns erlaubt, sein Gesicht zu sehen. Und nun dies.
»Er findet, dass er sich nicht mehr in Acht zu nehmen braucht«, sagte Mercer. »Er macht sich keine Gedanken darum, ob er gefasst wird.«
Da war es wieder. Trotz seiner Erschöpfung schien er uns immer ein paar Schritte zu weit voraus, als dass wir in seinen Gedanken einen Sinnzusammenhang sehen konnten. Seine Identität zu verbergen war dem Killer nicht mehr wichtig. Und jetzt war es ihm offenbar sogar gleichgültig, ob er geschnappt wurde.
Es war ein Schritt weiter, als Greg zu akzeptieren bereit war. »Also, nein, das ist nicht logisch. Er hatte das Mädchen doch schon in seinem Wagen, es ist also wahrscheinlicher, dass er einfach keine Zeit mehr hatte. Er hatte vermutlich geplant, später zurückzukommen und dann alles zu Ende zu bringen.«
Mercer schüttelte den Kopf und machte eine Geste mit der Hand. Ihm erschien alles so einfach und offensichtlich.
»Nein. Denk doch mal an seinen Anruf bei Simpsons Firma. Die Maske, die er für uns in Carl Farmers Wohnung zurückgelassen hat. Wir sind hier an einem Dialog beteiligt …«
»Er hat seine Vorgehensweise geändert …«
»Unterbrich mich nicht!«
Aber auf Greg machte das überhaupt keinen Eindruck, und er bemühte sich nicht, es zu verbergen. Er schloss die Augen und redete einfach weiter gegen seinen Chef an.
»… er hat seine Vorgehensweise geändert, und es ist eine Tatsache, dass wir nicht wissen, was er tut.«
»Ich weiß …«
»Aber ich bin sicher, dass ›sich nicht fassen zu lassen‹ nicht zu seinem Scheißplan gehört.«
»Ich weiß, was er tut.« Mercer schlug mit der Faust auf den Schreibtisch und zeigte dann auf die Karte auf dem Monitor.
»Er ist dort im Wald und wartet auf uns. Diese ganze Geschichte … wir sind in sein Spiel mit einbezogen. Verstehst du das nicht? Er gibt uns Zeit bis Tagesanbruch, um das Leben dieses Mädchens zu retten.«
Im Büro herrschte Schweigen. Wütend starrte er uns an, lehnte sich dann schwer auf seinem Stuhl zurück und schloss die Augen. Er sah aus wie ein Mann, dem zwar seine Rechte erläutert worden waren, den man aber gerade mit einem Trick dazu gebracht hatte, mit einem Geständnis herauszuplatzen. Er schüttelte den Kopf. Ich merkte, dass er sich über sich selbst ärgerte, weil er die Beherrschung verloren hatte.
Greg und ich sahen uns an. Greg war blass, aber seine Wangen waren gerötet von dem Zorn, den er seinerseits empfand. Mercers Ausbruch hatte ihn
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