Der 50-50 Killer
sie über Mythen und Märchen nach. Über Geschichten vom fahrenden Volk, das verbotene Wege ging und sich Ungeheuern und der Pforte des Todes gegenübersah. Sie dachte über den Fluss Styx nach, mit seinem sich dahinschleppenden, skelettdürren Fährmann, der die Übersetzenden ins Leben nach dem Tod brachte. Und über Dante, der in Gegenden umherzog, wo er nicht hätte sein sollen, und die Höllenkreise entdeckte. Genau das war es, wurde Jodie klar. Der Teufel brachte sie in die Hölle. Und trotz Scotts stiller Tränen und trotz all dessen, was sie sich vorgenommen hatte, ließ sie es geschehen, dass sie weinte.
3. Dezember
13 Stunden 50 Minuten bis Tagesanbruch
17:30 Uhr
Mark
Eines der vielen Probleme mit der Akte des 50/50-Killer war allein schon das umfangreiche Material. Es gab Zusammenfassungen, aber ich zwang mich, alles von Anfang an durchzulesen, damit ich die Fakten und Theorien im Zusammenhang sah und sie einen Sinn ergaben. Überhaupt wollte ich es so angehen, wie der Rest des Teams es damals getan hatte. Doch es war eine umfangreiche Akte, die viel Zeit in Anspruch nahm.
Der Text war schwierig zu lesen, und die Fotos zu betrachten war schwer.
Ich musste immer wieder kurze Pausen machen, meist ging ich dabei in die Kantine, um Kaffee für mich und Mercer zu holen. Ich kam gerade mit zwei Plastiktassen zurück, als mein Mobiltelefon in der Tasche vibrierte.
»Scheiße.«
Ich stellte die Tassen auf den Boden und zog das Telefon heraus, um die SMS zu lesen. Sie war von meinen Eltern.
Hi, Mark. Wir denken an dich. Hoffentlich hattest du bis jetzt einen guten ersten Tag, und alles ist in Ordnung. Wir machen uns Sorgen. Ruf uns an, wenn du kannst. Alles Liebe m&dxx
Ich sah auf die Uhr und war überrascht, zu sehen, dass mein erster offizieller Arbeitstag bereits um war – in Wirklichkeit natürlich noch nicht. Diesen Ermittlungen war von vornherein der Stempel »durcharbeiten« aufgedrückt.
Ich fragte mich, ob ich die SMS beantworten sollte. Meine Eltern machten sich immer Sorgen. Sie waren sowieso immer dagegen gewesen, dass ich zur Polizei ging, und obwohl ich jetzt fast dreißig war, sorgten sie sich immer noch, dass mir etwas passieren könnte. Seit Lises Tod war es schlimmer geworden, und ich hatte aufhören müssen, auf alle ihre Anrufe zu antworten, weil ich es einfach nicht ertragen konnte. Und jetzt war ich weit weggezogen … na ja, wahrscheinlich war es nur natürlich, dass sie sich sorgten, und irgendwie schätzte ich es auch, aber die Tatsache blieb bestehen, dass ich nicht gut damit umgehen konnte. Ich musste für mich allein sein. Es war, als wollten sie, dass ich trauerte und zusammenbrach, und als machten sie sich Sorgen, wenn ich es nicht tat. Doch in Wirklichkeit hatte ich einfach meine eigene Art, mit den Dingen fertig zu werden. Und über das, was passiert war, zu sprechen, gehörte nicht dazu, noch nicht. Ich beschloss, nicht zu antworten, steckte das Telefon in die Tasche, ging in mein Büro zurück und stellte Mercers Kaffee neben ihn auf den Tisch. Dann nahm ich meinen Platz am Computer wieder ein.
»Danke.«
Er sagte es, ohne aufzusehen, aber das war in Ordnung. Während ich mich durch die zähe Masse der Fakten kämpfte, hatte Mercer eine ähnliche Aufgabe in Bezug auf die laufende Ermittlung. Der Rest des Teams war jetzt entweder wieder irgendwo draußen unterwegs oder arbeitete von Büros in anderen Teilen des Gebäudes aus, und seit der Besprechung waren nur noch wir beide hier im Raum. Eine Unterhaltung fand nicht statt, aber wir hatten ja auch beide zu tun. Die anderen Mitglieder des Teams meldeten sich, wenn nötig, mit Berichten oder neuen Meldungen, und wenn Mercer nicht gerade mit ihnen sprach, behielt er die gleiche Haltung bei: Mit gesenktem Kopf über die Unterlagen gebeugt, koordinierte er alles von seinem Kopf aus. Wenn er nicht selbst telefonierte, nahm er Anrufe entgegen, wenn er das nicht tat, las er Stöße von Dokumenten oder machte weitere ausfindig. Er stand nicht auf, aber jedes Mal, wenn ich zu ihm hinüberschaute, sah ich heftige innere Aktivität. Dazwischen gab es regelmäßig Anrufe bei seinem Vorgesetzten, Detective Inspector Alan White, den er über die Entwicklung auf dem Laufenden hielt. Mercer schien immer froh zu sein, ihn loszuwerden. Ich wusste nicht, ob er es nicht mochte, jemand anderem über seinen eigenen Fall Rede und Antwort stehen zu müssen, aber wie immer das auch zu erklären war, er spielte die Bedeutung
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