Der 50-50 Killer
eine tiefere Wahrheit, aber in Wirklichkeit ist das, was mir wichtig scheint, der Welt völlig gleichgültig.
Warum tat der 50/50-Killer den Menschen das an? Er tat es, um die Liebe zwischen ihnen zu zerstören und zu erreichen, dass sie sich voneinander abwandten. Er war ein Wolf des Weltalls, was immer das bedeuten mochte. Ein Teufel. Doch all dies warf nur weitere Fragen auf. Wenn man fragt »warum«, ist die Antwort die Summe von hundert verschiedenen Gründen; keiner allein ist zufriedenstellend, und auch alle zusammen sind es nicht. Genau wie ich wollte auch Scott diese Antworten nicht hören. Er fragte »warum« auf einer Ebene, wo es überhaupt keine Antworten gab.
»Wir wissen es nicht«, gab ich zu. »Wir können nur die Fakten interpretieren und Theorien aufstellen. Wenn wir ihn fassen, können wir ihn vielleicht fragen, warum er es tut. Aber jetzt ist nur wichtig, dass wir ihn aufhalten, bevor er Jodie etwas antut.«
Bevor er ihr noch mehr antut, als er schon getan hat.
Der Ausdruck von Panik lag noch immer auf Scotts Gesicht, aber wenigstens hatten die Gefühle ihn noch nicht überwältigt.
Ich nahm das Foto von Carl Farmer aus der Akte und gab es Scott. Er hielt es, schaute es an, und sein Gesicht erstarrte. Seine Hand fing an zu zittern.
Er fragte: »Ist er das?«
»Ich hatte gehofft, Sie könnten mir das sagen.«
Er konzentrierte sich und betrachtete das Foto aufmerksam.
»Ich hab ihn schon mal gesehen. Das weiß ich. Er war schon mal im Haus. Vor ein paar Monaten. Er hat unseren Stromzähler kontrolliert.«
»Okay.«
Ich dachte: Gut. Jetzt hatten wir zwei Bestätigungen seiner Identität von zwei unabhängigen Zeugen. Wie unwahrscheinlich es auch scheinen mochte, der 50/50-Killer hatte uns tatsächlich sein Gesicht gezeigt.
»Aber ich weiß nicht, ob das der Mann im Wald ist.« Er gab mir das Bild zurück. »Ich weiß nur noch, dass er wie der Teufel ausgesehen hat. Nicht nur wegen der Maske. Der Mann in meinem Kopf … das war nicht einmal ein Mensch.«
Er wandte sich den Jalousien zu, und ich ließ seine Bemerkung so stehen. Daniel Roseneil hatte etwas sehr Ähnliches gesagt.
Er war der Teufel.
Natürlich stimmte das nicht. So etwas wie den Teufel gab es nicht. Es gab nur anormale Menschen, die sich zu etwas Verzerrtem und Krankhaftem entwickelt hatten. Aber obwohl ich das wusste, war ich nicht sicher, ob Daniel und Scott ganz unrecht hatten. In unserer unvollkommenen Welt von Ursache und Wirkung, in der die Antworten niemals wirklich befriedigen, war es vielleicht so zutreffend wie möglich.
»Steinwände«, sagte Scott leise.
Er lag noch von mir abgewandte da und schaute zum Fenster. Unwillkürlich verspürte ich ein Aufwallen der Erregung.
»Steinwände?«
»Da, wo ich war – da waren Steinwände.« Er schluckte.
»Daran erinnere ich mich. Es war schmal und eng. Die Wände stießen direkt an meine Schultern.«
»Okay, Scott. Das ist gut.«
Er war also in einem der Gebäude im Wald gewesen. Das grenzte die Größenordnung der Suche etwas ein. Es gab zwar nach meiner Erinnerung auf der Karte mehrere Gebäude, aber es war nicht unmöglich. Vielleicht hatten wir doch eine Chance, Jodie noch vor Tagesanbruch zu finden.
»Fällt Ihnen noch etwas anderes dazu ein?«
»Ich erinnere mich an die Steinwände. Er hat vor mir gekauert und mit mir gesprochen.«
Scott nickte immer wieder ganz leicht vor sich hin. Etwas tat ihm weh, aber er hielt es aus, solange es ging.
»Er hat mir in der Dunkelheit etwas zugeflüstert. Ganz nah. Ich hatte solche Angst.«
Ich hatte bei diesem zweiten Gespräch alles bekommen, was ich brauchte, und mein Instinkt riet mir, hier abzubrechen – Scott wieder von dem wegzugeleiten, wo seine Erinnerung ihn hinführte. Doch eigentlich wäre das nicht fair. Es wäre zu einseitig. Wenn er reden wollte, musste ich bereit sein, zuzuhören.
»War es stockdunkel?«, fragte ich.
»Nein. Da war ein bisschen Licht.«
»Ein Feuer?«
»Ja, ich glaube schon. Er hat es benutzt, um …«
Ohne Vorwarnung kam die Erinnerung zurück. Er hörte auf zu nicken und zu reden und wurde völlig still. Dann hob er langsam eine Hand ans Gesicht. Ich musste den Impuls unterdrücken, es mit meiner Hand genauso zu machen.
»Es ist gut, Scott«, beschwichtigte ich. »Ist schon gut.«
»Da waren Steinwände.«
»Danke. Sie haben sich gut geschlagen.«
»Alte Steinwände.«
Diesmal fing er nicht an zu weinen, sondern hielt nur die Hand über das verwundete Auge, und es schien,
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