Der Abgrund
Nachbarn.«
In diesen heiligen Tempel kamen Präsidenten, Richter des Obersten Gerichts, Kongressabgeordnete, Botschafter und Würdenträger geringeren Standes, um zu beten, zu singen und in seltenen Fällen zu beichten. Politiker wurden häufig fotografiert oder gefilmt, wie sie die breiten Stufen hinauf- oder hinunterstiegen, die Bibel in der Hand und einen gottesfürchtigen Ausdruck auf dem Gesicht. Trotz der Trennung von Kirche und Staat in den USA mochten die Wähler es gern, wenn ihre Vertreter gelegentlich etwas Frömmigkeit an den Tag legten.
Kein HRT-Mitglied hatte jemals diese Kirche besucht, aber die Politiker brauchten eine angemessene Bühne, auf der sie ihre Trauerreden halten konnten. Und die kleine Waldkapelle in der Nähe von Quantico, in der einige Mitglieder des Charlie-Teams tatsächlich am Gottesdienst teilgenommen hatten, reichte für diese Zwecke offensichtlich nicht aus.
Der Himmel war klar, die Sonne warm und die leichte Brise erfrischend. Der Tag war viel zu schön für einen Trauergottesdienst, fand Web. Dennoch ging er die Stufen zur Kirche hinauf. Jedes Klacken seiner geputzten Schuhe auf dem Stein war wie das Geräusch, mit dem sich die Trommel einer Waffe weiterdrehte, zur nächsten Kammer, zur nächsten Patrone, jedes Klicken ein weiteres beendetes Leben. Solche grausamen Analogien waren anscheinend sein Schicksal, überlegte Web. Bei dieser Einstellung war es kein Wunder, dass er deprimiert war.
Überall waren Agenten des Secret Service mit ihren Schulterhalftern, Pokermienen und geringelten Kabeln, die ins Ohr führten. Web musste durch einen Metalldetektor gehen, bevor er die Kirche betreten durfte. Er zeigte seine Waffe und seinen FBI-Ausweis vor, womit den Agenten klar war, dass Web seine Waffe erst dann abgeben würde, wenn er tot war.
Als er die Tür öffnete, wäre er beinahe gegen die hintersten Mitglieder der Menschenmenge geprallt, die sich irgendwie in das Gebäude gezwängt hatte. Er setzte die eher ungehobelte Taktik ein, seine Dienstmarke aufblitzen zu lassen, worauf sich das Meer teilte und er nach vorn durchgelassen wurde. In einer Ecke hatte sich ein Kamerateam aufgestellt und übertrug die gesamte Veranstaltung. Welcher Idiot hatte ihnen die Genehmigung erteilt? Und wessen Idee war es überhaupt gewesen, die gesamte Welt zu einem Ereignis einzuladen, das eigentlich nur eine private Trauerfeier sein sollte? Sollten sich die Angehörigen so an ihre Verstorbenen erinnern - als Zirkusattraktionen?
Mit Hilfe einiger Agentenkollegen gelang es Web, sich auf eine Bank zu quetschen. Dann sah er sich um. Die Familien saßen in den ersten beiden Reihen, die durch ein Seil abgesperrt waren. Web senkte den Kopf und sprach für jeden einzelnen der Männer ein Gebet. Am längsten verweilte er bei Teddy Riner, der Webs Mentor gewesen war, ein Top-Agent, ein wunderbarer Vater und insgesamt ein guter Mensch. Web vergoss ein paar Tränen, als ihm bewusst wurde, wie viel er tatsächlich in den wenigen Sekunden der Hölle verloren hatte. Doch als er nach vorn zu den Familienangehörigen schaute, war ihm klar, dass sein Verlust nicht mit dem dieser Menschen zu vergleichen war.
Den jüngeren Kindern wurde erst jetzt bewusst, was geschehen war. Web hörte ihr Schluchzen und Klagen, dass Daddy nie mehr zurückkehren würde. Und das Jammern ging während aller erschöpften Ansprachen weiter - vom Blödsinn der Politiker, dass härter gegen Verbrecher durchgegriffen werden müsse, bis zu den Priestern, die keinem der Männer, auf die sie Lobeshymnen sangen, jemals begegnet waren.
Web wäre am liebsten aufgestanden und hätte leise gesagt: Sie kämpften für das Gute. Sie starben beim Versuch, uns alle zu beschützen. Wir dürfen sie niemals vergessen, denn sie alle waren auf ihre persönliche Art unvergesslich. Ende der Lobrede. Amen. Jetzt lasst uns was trinken gehen.
Endlich war der Trauergottesdienst vorbei, und die Versammlung stieß einen kollektiven Seufzer der Erleichterung aus. Auf dem Weg nach draußen sprach Web mit Debbie Riner und sagte ein paar tröstende Worte zu Cynde Plummer und Carol Garcia. Auch mit den anderen redete er kurz und umarmte sie. Er ging in die Hocke und unterhielt sich mit den Kindern, hielt ihre kleinen zitternden Körper in den Armen und wollte sie gar nicht mehr loslassen. Dieser einfache Kontakt ging ihm sehr zu Herzen, und er hätte beinahe mitgeheult. Er hatte noch nie zu Tränenausbrüchen geneigt, in der letzten Woche hatte er jedoch mehr
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