Der Abgrund
er hörte.
»Ich weiß, dass er einen Bruder hat. Lebt Kevin manchmal bei ihm?«
Jerome riss die Augen auf, und die Alte schaute gleichfalls hoch. Der Gesichtsausdruck der beiden war eher so, als hätte Web sie mit einer Waffe bedroht und ihnen angekündigt, dass sie sich darauf gefasst machen sollten, ins Gras zu beißen.
»Kenn ich nicht, hab ich nie gesehen«, sagte die Alte hastig. Sie wiegte ihren Körper vor und zurück, als hätte sie plötzlich Schmerzen bekommen. Im Augenblick sah sie gar nicht mehr stark, sondern äußerst verletzlich aus. Sie war nur noch eine alte Frau, die furchtbare Angst hatte.
Als Web zu Jerome hinüberblickte, sprang dieser auf und war verschwunden, bevor Web irgendwie reagieren konnte. Er hörte, wie die Haustür geöffnet und zugeschlagen wurde, gefolgt vom Geräusch sich eilig entfernender Schritte.
Webs Blick kehrte zur Alten zurück.
»Jerome kennt ihn auch nicht«, sagte sie.
KAPITEL 13
Der Tag der offiziellen Trauerfeier war gekommen. Web stand früh auf, duschte und rasierte sich und zog seinen besten Anzug an. Die Zeit war gekommen, in aller Form um seine Freunde zu trauern und ihnen die letzte Ehre zu erweisen, doch viel lieber wäre Web einfach davongelaufen.
Er hatte nicht mit Bates darüber gesprochen, was er von Romano und Cortez oder Kevins Verwandten erfahren hatte. Er war sich nicht sicher, warum er es nicht getan hatte. Er wusste nur, dass er nicht gerade in vertrauensseliger Stimmung war und dass Bates ihm zweifellos wegen Einmischung in die Ermittlungen einen Rüffel erteilt hätte. Bates hielt den Jungen für Kevin Westbrook, was entweder bedeutete, dass der Junge ihm diesen Namen genannt hatte, oder dass Bates die Information von Romano und Cortez bekommen hatte, falls der Junge verschwunden war, bevor Bates die Szene betreten hatte. Web musste herausbekommen, wie sich die Sache verhielt. Wenn Bates das andere Kind gesehen hatte, bevor er Kevins Foto von der Großmutter bekommen hatte, musste ihm klar sein, dass es sich um zwei verschiedene Kinder handelte.
Web hatte also einem Jungen mit einer Schussnarbe in der Wange eine Nachricht für die Leute von der Geiselrettung gegeben. Dieser Junge hatte Web gesagt, sein Name sei Kevin. Der Zettel war abgeliefert worden, aber offenbar nicht von dem Kind, dem Web die Nachricht übergeben hatte. Also war der Junge auf dem Weg zu den Geiselrettern gegen ein anderes Kind ausgetauscht worden. Das konnte nur irgendwo auf der Straße geschehen sein. Für diese Aktion hatte nicht viel Platz zur Verfügung gestanden, aber für den Austausch reichte es allemal, was wiederum bedeutete, dass sich irgendwo an der Straße weitere Personen bereitgehalten hatten - vielleicht nicht nur für diese Aktion, sondern für noch ganz andere Eventualitäten.
War es geplant gewesen, dass Kevin durch diese Straße zurückkehrte? Arbeitete er für seinen Bruder Big F? Sollte er sich davon überzeugen, dass alle Mitglieder des Charlie-Teams tot waren, und hatte er nicht damit gerechnet, auf einen Überlebenden zu stoßen? Und war die Planung durcheinander geraten, als er Web lebend vorgefunden hatte?
Aber was, zum Teufel, war der ursprüngliche Plan gewesen? Und warum hatte man das Kind gegen ein anderes ausgetauscht? Und warum hatte der falsche Kevin gelogen und Web als Feigling hingestellt? Und wer war der Anzugträger, der das ausgewechselte Kind mitgenommen hatte? Bates war sehr wortkarg gewesen, als es um die Frage ging, warum der Junge verloren gegangen war. War der Mann, mit dem Romano gesprochen hatte, überhaupt ein FBI-Agent? Aber falls nicht, konnte sich Web kaum vorstellen, wie ein Hochstapler die Dreistigkeit aufbrachte, auf den Schauplatz zu spazieren, Romano und Cortez mit einem gefälschten Ausweis zum Narren zu halten und sich dann mit einem zweiten Hochstapler aus dem Staub zu machen.
Es war alles äußerst verwirrend, und Web wusste kaum noch, was er glauben sollte und durfte. Und sein Bedürfnis, sich mit seinen Fragen an Bates zu wenden, war nicht besonders ausgeprägt.
Er stellte seinen Mach One so nahe wie möglich an der Kirche ab. Hier parkten bereits viele Autos, und es gab nicht mehr viel Platz. Die Kirche war ein düsteres Steinmonument, das gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts errichtet worden war, als das erste Gebot der Architekten lautete:
»Dein Gotteshaus soll mehr Türmchen, Balustraden, ionische Säulen, Giebel, Bogen, Türen, Fenster und kühle Steinblöcke haben als das deines
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