Der Afghane
alle sehen aus, als wären sie vor hundert Jahren gebaut worden. Fauchend und grollend schleichen sie über jede Straße im Mittleren und Fernen Osten und stoßen dicke schwarze Rauchwolken aus. Oft stehen sie mit einer Panne am Straßenrand, und der Fahrer muss meilenweit laufen, um das benötigte Ersatzteil zu finden und zu kaufen.
Anscheinend überwinden sie dennoch die steilsten Gebirgspässe und rollen auf holprigen Pisten an kahlen Berghängen entlang. Manchmal sieht man das ausgebrannte Skelett eines solchen Trucks auf dem Grund einer Schlucht neben der Straße liegen. Aber sie sind das Blut in den Adern des Handels eines ganzen Kontinents, und sie bringen eine unglaubliche Vielfalt von Waren in die winzigsten und entlegensten Siedlungen und zu den Menschen, die dort leben.
Wegen ihrer Verzierungen haben die Briten sie schon vor vielen Jahren »Jingly Trucks« getauft. Jede freie Fläche ist mit religiösen und historischen Szenen sorgsam bemalt. Man sieht Bilder aus dem Christentum, Islam, Hinduismus, Sikhismus und Buddhismus, oft prachtvoll zusammengemixt. Außerdem sind sie behängt mit Girlanden, Flitter und kleinen Glöckchen. Sie klingeln – daher »Jingly Trucks«.
In der Schlange auf der Landstraße südlich von Kabul standen ein paar hundert davon. Die Fahrer schliefen in ihren Kabinen und warteten auf den Morgen. Rutschend kam der Pick-up neben der Schlange zum Stehen. Mike Martin sprang hinunter und ging nach vorn. Das Gesicht des Mannes am Steuer war mit einem karierten Tuch verhüllt.
Brigadier Yusuf auf dem Beifahrersitz nickte nur stumm. Das Ende der Straße. Der Anfang der Reise. Als Martin sich abwandte, hörte er die Stimme des Fahrers.
»Viel Glück, Boss.«
Wieder diese Anrede. Nur SAS-Männer nannten ihre Offiziere »Boss«. Der amerikanische Provost Major in Bagram hatte nicht nur nicht gewusst, wer sein Gefangener war, er ahnte auch nichts davon, dass die afghanischen Special Forces nach dem Amtsantritt von Präsident Hamid Karsai auf dessen Bitte hin vom britischen SAS ins Leben gerufen und ausgebildet worden waren.
Martin ging an der Reihe der Lastwagen entlang. Hinter ihm verschwanden die Heckleuchten des Pick-ups, der jetzt nach Kabul zurückfuhr. Der SAS-Sergeant am Steuer rief über sein Handy eine Nummer in Kabul an. Sein Vorgesetzter nahm den Anruf entgegen. Der Sergeant sagte zwei Worte und trennte die Verbindung.
Auch der Afghanistan-Chef des SIS telefonierte auf einer abhörsicheren Leitung. In Kabul war es halb vier Uhr morgens, in Schottland elf Uhr abends. Auf einem der Monitore erschien eine einzeilige Meldung. Phillips und McDonald waren bereits im Raum und hofften zu sehen, was sie jetzt sahen: »Crowbar läuft.«
Auf der eisigen, von Schlaglöchern übersäten Landstraße warf Mike Martin einen letzten Blick zurück. Die roten Schlusslichter des Pick-ups waren verschwunden. Er ging weiter. Nach hundert Schritten war er der Afghane.
Er wusste, was er suchte, aber er fand es erst, als er viele Lastwagen passiert hatte. Ein Nummernschild aus Karachi, Pakistan. Der Fahrer so eines Lasters würde kaum Paschtune sein und deshalb nicht merken, dass Martins Paschto nicht perfekt war. Wahrscheinlich war es ein Belutschi auf dem Heimweg in die pakistanische Provinz Belutschistan.
Für die Lastwagenfahrer war es noch zu früh zum Aufstehen, und es wäre unklug, einen von ihnen zu wecken: Müde Männer, die plötzlich geweckt wurden, waren nicht in bester Laune, und für Martin war es wichtig, dass der Fahrer großzügig gestimmt war. Also rollte er sich frierend für zwei Stunden unter dem Laster zusammen.
Gegen sechs regte sich erstes Leben, und der Himmel im Osten färbte sich rosig. Am Straßenrand zündete jemand ein Feuer an und hängte einen Wasserkessel darüber. In Zentralasien dreht sich ein großer Teil des Lebens um das Teehaus, das chaikhanna, das manchmal nur aus einem Feuer, einer Kanne Tee und ein paar Männern besteht. Martin stand auf, ging zu dem Feuer und wärmte sich die Hände.
Der Teekocher war ein Paschtune von der wortkargen Sorte, was Martin nur recht sein konnte. Martin hatte den Turban abgenommen und in seiner Schultertasche verstaut. Es wäre unklug, sich als Talib zu erkennen zu geben, solange er nicht wusste, dass er damit auf Sympathie stieß. Mit einer Hand voll Afghanis bezahlte er für einen Becher Tee und trank dankbar. Ein paar Minuten später kletterte der Belutschi schlaftrunken aus seinem Führerhaus und kam herüber, um sich
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