Der Agent - The Invisible
oberstem Boss. Diese Verbindungen, ob real oder nur fiktiv, hatten westliche Geheimdienste auf ihn aufmerksam gemacht. Doch das war Jahre her, und seit seinem Abschied aus der Armee und dem ISI war Mengal untergetaucht. Nach 2001 war er praktisch von der Bildfläche verschwunden, und es wurde allgemein angenommen, dass er sich ins Privatleben zurückgezogen hatte.
Naveed Jilani glaubte nicht daran. Er war nicht gebildet, hatte aber während der letzten sechzehn Jahre eng mit Karrierediplomaten zusammengearbeitet und konnte sich einiges zusammenreimen. Deshalb wusste er, dass man Mengal nie abschreiben durfte. Der General hatte sich einen Ruf aufgebaut, der unabhängig war von seiner Position in der pakistanischen Armee. Außerdem hatte er die Samen für eine Reihe zukünftiger Unternehmungen ausgestreut, von denen keine des Deckmantels der Autorität bedurfte. Und doch hätte nichts Naveed darauf vorbereiten können, was Mengal vor zwei Wochen von ihm verlangt hatte. Noch immer konnte er nicht fassen, dass er zugestimmt hatte, aber er hatte es getan, und alles andere zählte nicht. Jetzt blieb ihm keine andere Wahl mehr, als die Sache durchzuziehen. In nicht einmal zwölf Stunden würde er dem General dabei helfen, dem Westen einen Schlag zu versetzen, von dem er sich jahrelang nicht erholen würde. Er konnte nichts mehr tun, um dem Lauf der Dinge Einhalt zu gebieten, konnte sich nicht mehr herauswinden aus seiner Verstrickung in eine Tat, durch die er bald zum Feind des mächtigsten Landes der Welt werden würde.
Hinter sich hörte er die leise Stimme seiner Frau, die ihn bat, wieder hereinzukommen. Naveed zog ein letztes Mal an der Zigarette, schnippte den Stummel über das Balkongeländer und blies einen dünnen Rauchfaden aus. Dann blickte er zu dem klaren Nachthimmel auf und sprach ein stilles Gebet. Er bat nicht um die Kraft, das Richtige zu tun, seine Entscheidung war bereits gefallen. Stattdessen bat er Allah, über seine Frau und sein Kind zu wachen und darum, dass sie ihn eines Tages verstehen würden, in fünf oder erst in zwanzig Jahren. Ihm war klar, dass er kein Recht hatte, diese Bitten zu stellen, denn er hatte viele Jahre lang keinen Fuß in eine Moschee
gesetzt, und sein Glaube war - trotz seines frommen Onkels - nur schwach ausgeprägt. Trotzdem glaubte er angesichts der Größe seiner Aufgabe, dass Gott ihn verstehen würde. Nach einem letzten Blick auf den sternenlosen Himmel trat er in die Wohnung und schloss die Balkontür.
4
Oræfi
Während er ungläubig in Richtung Bar starrte, musste Ryan Kealey gegen die in ihm aufsteigenden Gefühle ankämpfen. Er gab sich alle Mühe, sie in Schach zu halten, doch es funktionierte nicht. Schock, Zorn, Erleichterung, Verwirrung … All das machte ihm schwer zu schaffen, doch schon jetzt gewann der Zorn die Oberhand. Es war offensichtlich, dass er im Dunkeln gelassen worden war, und zwar aus einem anderen Grund als jenem, den er vor ein paar Monaten vermutet hatte. Nach langem Nachdenken war er damals zu dem Schluss gekommen, dass die Frau, die er jetzt ansah, ihn verlassen hatte, weil sie mehr Zeit und Raum für sich benötigte. Das war die einzige Erklärung, die ihm sinnvoll erschien, denn ihre damalige Beziehung hätte nicht besser sein können. Doch da sie jetzt urplötzlich ausgerechnet hier wiederauftauchte, war nur zu klar, wie sehr er sich getäuscht hatte.
»Sie wussten es?«, fragte er schließlich. Es fiel ihm schwer, seine Stimme unter Kontrolle zu behalten. Er hatte unzählige Fragen auf dem Herzen, doch in erster Linie beschäftigte ihn, was genau hier eigentlich los war. »Sie wussten die ganze Zeit über, wo sie war?«
»Es war ihre Entscheidung, Sie nicht einzuweihen«, antwortete Harper leise. »Außerdem möchte ich betonen, dass sie zu mir gekommen ist.«
»Wann?«, stieß Kealey mühsam hervor, weiter zu Naomi
Kharmai hinüberschauend. Ihre Schultern wirkten angespannt, als spürte sie seinen Blick auf sich ruhen, doch er wusste, dass sich dieser Eindruck nur seiner Einbildung verdankte. Sie konnte nicht wissen, dass mittlerweile über sie gesprochen wurde, sie unterhielten sich zu leise. Da das Feuer im Kamin den großen Raum nicht wärmte, war die Heizung eingeschaltet, doch die musste defekt sein, da sie ungewöhnlich laut war. »Wann hat sie Kontakt zu Ihnen aufgenommen?«
»In der ersten Februarwoche. Zu dem Zeitpunkt war sie ein Wrack, stand kurz vor dem Zusammenbruch. Wenn Sie Kharmai am Tag nach ihrem Anruf gesehen
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