Der Agent - The Invisible
hatte. Vermutlich hatte sie erwartet, dass er wütend
war. In gewisser Weise stimmte das auch, doch im Augenblick war er einfach nur erleichtert, sie endlich wiederzusehen.
Da sie in Gedanken woanders zu sein schien, nahm er sich einen Augenblick Zeit, um ihr Äußeres zu studieren. Der weiße Kaschmirpullover war eines ihrer liebsten Kleidungsstücke und ihm genauso vertraut wie die engen verwaschenen Jeans und die schweren Absätze. Ihr schimmerndes schwarzes Haar rahmte ihr Gesicht und fiel bis auf die Schultern. Der Pony veränderte ihr übliches Aussehen ein bisschen, und die Frisur verbarg den größten Teil der etwas helleren Narbe auf der rechten Wange. Ihre ansonsten makellos karamellfarbene Haut ließ diese umso stärker hervortreten.
Am meisten irritierte ihn allerdings ihre Haltung, die schwer zu deuten war und zugleich aggressiv und defensiv wirkte. Sie hielt weiterhin die Arme vor der Brust verschränkt und hatte die Lippen noch immer fest zusammengekniffen. Fast schien es, als wollte sie ihn auffordern, die Entscheidungen infrage zu stellen, die sie seit ihrem letzten Gespräch getroffen und ihm für endlose Monate verschwiegen hatte.
Er konnte nicht sagen, wie viel davon Pose war und wie viel einen echten Wandel ihrer Persönlichkeit spiegelte, aber er glaubte nicht, dass ihre jüngst absolvierten Kurse auf der »Farm«, dem größten Ausbildungszentrum der CIA in der Nähe von Williamsburg in Virginia, sie so verändert haben konnten. Ihm kam es wahrscheinlicher vor, dass dafür die schwere Prüfung verantwortlich war, die sie im letzten Jahr durchgemacht hatte. Es schien seltsam, sie so zu sehen, ohne jeden Anflug von Unschuld und Naivität. Aber es war schön, sie überhaupt wiederzusehen und zu wissen, dass sie nicht resigniert hatte vor den seelischen Problemen.
»Mir ging’s ganz gut«, antwortete sie schließlich. Die Worte
kamen überraschend, er hatte ganz vergessen, dass er eine Frage gestellt hatte. »Zumindest nach dem Kurs in Camp Peary, da ging es mir dann besser. Was hat Harper dir erzählt?«
»Eigentlich nichts.«
»Irgendwas muss er erzählt haben«, bohrte sie. »Was hat er gesagt?«
»Dass du eine Zusatzausbildung wolltest.« Er zögerte. »Warst du deshalb in Camp Peary? Wolltest du dich für Vor-Ort-Einsätze schulen lassen?«
Sie nickte bedächtig. »Du wirst es nicht glauben, Ryan, aber es war die richtige Entscheidung. Die beste, die ich treffen konnte. Ich brauchte eine Veränderung, aber es war nicht nur das. Ich musste …«
»Ja?«, fragte er, da er den Eindruck hatte, dass sie den Satz nicht beenden würde.
Sie zuckte die Achseln und wandte den Blick ab. Offenbar wollte sie Entschlossenheit demonstrieren, aber es gelang ihr nicht. Es war, wie er vermutet hatte. Sie mochte sich in gewisser Weise verändert haben, doch trotz aller Anstrengungen war sie nicht in der Lage gewesen, mit dem eigentlichen Problem fertig zu werden. Was ihn absolut nicht überraschte. Aus persönlicher Erfahrung wusste er, dass seelische Wunden - jene, die nicht bluteten und die man nicht sah - gewöhnlich die schlimmsten waren, denn es gab keine Standardmethode, sie zu heilen.
»Ich kann es nicht wirklich erklären«, sagte sie. »Aber glaub mir, jetzt steht alles zum Besten. Übrigens hatte es nichts mit dir zu tun. Ich bin nicht deshalb verschwunden, aber … Nein, das trifft es nicht richtig … Hör zu, ich bin hier, weil ich mit dir reden wollte. Um es dir unter vier Augen zu sagen. Ich denke, das bin ich dir schuldig.«
»Um mir was zu sagen?«
»Dass ich so weit bin, wieder an die Arbeit zu gehen.« Sie schwieg einen Moment, weil sie seine Reaktion einschätzen wollte. »Harper hat mir diesen Job angeboten. Er sagte, ich sei perfekt dafür geeignet, wegen Pakistan … Bei der CIA gibt es nicht viele Agenten, die Punjabi sprechen …«
»Mit Sicherheit mehr als einen«, versetzte Kealey, der einen skeptischen Unterton nicht unterdrücken konnte. Obwohl er ihre Worte ernst nahm, hatte sie immer noch nicht angesprochen, was wirklich wichtig war, zumindest für ihn. Er versuchte, seine Verbitterung zurückzudrängen, doch es gelang ihm nicht ganz. »Interessant, dass er zuerst an dich gedacht hat.«
Sie warf ihm einen scharfen Blick zu. »Was soll das heißen?«
»Nichts, ich …« Er unterbrach sich abrupt, wollte den Gedanken nicht weiterverfolgen. Ihm war absolut nicht daran gelegen, dass es zu einem Streit kam. Er wollte unbedingt wissen, was in ihrem Kopf vorging, konnte
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