Der Agent - The Invisible
gelassen. Zu ihrer Linken lag ein großer Teich, über dessen trübem Wasser träge Libellen schwebten, zu ihrer Rechten eine große Weide. Als der Teich hinter ihnen lag, hielt er am Straßenrand. Er hatte die Route sorgfältig geplant und rief Owen an, um ihre Position durchzugeben. Nach einem Blick auf seine Karte antwortete Owen, er könne in einer Viertelstunde da sein. Alles lief nach Plan.
Im Augenblick gab es nichts zu tun als zu warten, und Kealey stieg aus und reckte seine Glieder. Fahim hatte das Bewusstsein verloren und wäre selbst ohne Handschellen keine Gefahr gewesen. Die Schusswunde in seinem Oberschenkel blutete noch, aber durch einen improvisierten Druckverband, den Pétain aus dem Stoff seines Regenmantels fabriziert hatte, konnte der Blutverlust in Grenzen gehalten werden. Außerdem interessierte Kealey sich nicht für das Wohlergehen des Mannes. Er musste nur so lange leben, wie sie benötigten, um Fitzgerald zu finden und sie außer Landes zu schaffen. Als er den Inhalt der Kampftaschen noch einmal gründlich überprüfte, bemerkte er plötzlich, dass Pétain neben ihm stand und ihn mit einem ruhigen Blick ansah. Er wartete, ob sie etwas zu sagen hatte.
»Was geschieht jetzt?«, fragte sie schließlich.
»Sie müssen auf ihn aufpassen«, sagte Kealey mit einer Kopfbewegung in Richtung des bewusstlosen Mannes auf dem
Beifahrersitz. »Vielleicht hat er uns doch an der Nase herumgeführt. Deshalb können wir ihn erst laufen lassen, wenn wir zweifelsfrei wissen, dass die Zielpersonen sich im Haus des Chirurgen in Sialkot aufhalten. Unter Umständen können Sie ihn erst am Morgen freilassen. Wie auch immer, Sie müssen auf jeden Fall allein fliegen, um außer Landes zu gelangen.«
Sie dachte schweigend darüber nach. »Und wenn sie nicht in Sialkot sind?«
»Dann werden Sie ihn davon überzeugen müssen, alles auszuspucken.« Er blickte ihr direkt in die Augen. Was diesen Punkt anbetraf, musste er sich sicher sein. »Es könnte schwierig werden, ihn davon zu überzeugen. Schaffen Sie das, wenn’s sein muss?«
»Ja«, antwortete sie sofort und ohne mit der Wimper zu zucken. Er war sicher, dass sie tun würde, was getan werden musste, und das reichte ihm. Wenigstens hier glaubte er, sich auf sein Gefühl verlassen zu können. »Wird er so lange leben?«, fragte sie.
»Ich hoffe es. Wir könnten ihn noch brauchen.«
Pétain schien ein paar Augenblicke darüber nachzudenken. »Kealey …«
Jetzt kommt’s, dachte er. Obwohl er während der letzten Stunden darüber nachgedacht hatte, wusste er immer noch nicht, wie er mit diesem Problem umgehen sollte.
»Ich weiß nicht, was bei dem Unterwerk passiert ist«, sagte Pétain nachdenklich. »Aber ich möchte es wissen … Danke für das, was Sie getan haben.«
»Was?« Er brauchte einen Moment, bis ihm klar wurde, was sie gesagt hatte. Damit hatte er absolut nicht gerechnet. Er schüttelte den Kopf und schaute sie ungläubig an. »Wovon reden Sie? Ich hätte fast auf Sie geschossen.«
»Ja, aber Sie mussten, oder?« Eigentlich war es keine Frage, aber sie zögerte, bevor sie weitersprach. »Ich meine, ich weiß nicht, warum Sie mussten, aber Sie hätten nicht einmal einen Gedanken daran verschwendet, wenn Sie nicht in einer Zwangslage gewesen wären. Ich weiß es, Kealey. Ich weiß einiges über Sie, wie alle bei der operativen Abteilung …« Sie errötete leicht, was aber nichts daran änderte, dass sie sich voll unter Kontrolle hatte. »Ich konnte nicht verstehen, was Sie am Telefon gesagt haben, aber mit wem Sie auch gesprochen haben … Wer immer am anderen Ende war, er wollte, dass Sie es tun. Aber Sie haben es nicht getan. Also nochmals danke.«
Also weiß sie es immer noch nicht, dachte er. Sie wirkte etwas unbeholfen, aber ihre Miene war völlig offen, und das bestätigte seine ursprüngliche Vermutung. Sie wusste nicht, dass ihr Vater für das Ganze verantwortlich war. Natürlich hätte er es ihr erzählen können, doch jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Gab es den überhaupt angesichts dieser unglaublichen Geschichte?
Wahrscheinlich nicht, befand er nach längerem Nachdenken. Machado selbst mochte seine Vorgehensweise für vernünftig halten, doch das lag nur daran, dass sein Begriff von Vernunft pervertiert war nach acht Jahren, in denen er den Verlust seiner älteren Tochter betrauert und um das Leben der jüngeren gebangt hatte. Was er getan hatte, würde Pétain wahrscheinlich als genauso unbegreiflich erscheinen
Weitere Kostenlose Bücher