Der Agent - The Invisible
gesehen hatte, konnte er an einer Hand abzählen. Schon aus diesem Grund schien es unwahrscheinlich, dass Alkohol im Spiel war. Trotzdem, was es auch sein mochte, es bestand Anlass zur Sorge. Es war schwer, die kleinen Abweichungen von ihrem normalen Verhalten zu erkennen, und wenn er nicht eine längere Zeit mit ihr zusammengelebt hätte, wären sie ihm womöglich völlig entgangen.
»Können wir einen Augenblick unter vier Augen sprechen, Naomi?«
Sie verschränkte die Arme und starrte ihn eine volle halbe Minute lang an. Dann nickte sie, ging an ihm vorbei und trat in den Flur. Pétains und Ramirez’ neugierige Blicke folgten ihr.
Kealey eilte ihr nach, schloss die Tür, griff nach ihrem rechten Ellbogen und zog sie an sich. Dann blickte sie zu ihm auf, und er war so geschockt, dass es ihm die Sprache verschlug. Ihr Gesicht war völlig ausdruckslos, doch nicht das erregte seine Aufmerksamkeit. Es waren ihre Augen, insbesondere die Pupillen, die fast doppelt so groß waren wie sonst. Er fragte sich, wie ihm das bis jetzt entgangen sein konnte. Noch wichtiger, wie konnte es Harper entgangen sein? Eine Unzahl möglicher Erklärungen ging ihm durch den Kopf, von denen fast alle nichts taugten, doch ihm blieb keine Zeit, genauer darüber nachzudenken.
»Worum geht’s?«, fragte sie. Ihre Stimme war fast genauso ausdruckslos wie ihr Blick. »Wir verschwenden nur Zeit.«
Er schüttelte ungläubig den Kopf und packte ihren Arm ein bisschen fester. Nicht so fest, dass es wehtat, aber fest genug, um sie aus diesem Zustand der Abwesenheit zu reißen. Sie blinzelte, schien aber ansonsten nichts zu merken.
»Was ist mit dir los, Naomi?«, murmelte er. Die Wände waren dünn, aus dem Hotelzimmer war kein Laut zu hören. Er musste sie nicht sehen, um zu wissen, dass Pétain und Ramirez lauschten. »Du warst seit heute Morgen um sieben verschwunden. Wir wollten gerade ohne dich loslegen.«
»Ja, ich weiß, tut mir leid. Aber jetzt bin ich hier. Ich komme mit.« Er antwortete nicht, und ein Anflug von Verärgerung huschte über sein Gesicht. »Ich hab gesagt, dass es mir leidtut, Ryan. Was erwartest du noch? Wir haben gestern Abend alles besprochen. Stundenlang. Nichts hat sich geändert, also gibt es kein Problem. Soweit ich sehe, ist diese Aktion völlig unkompliziert.«
»Das macht sie kein bisschen weniger riskant«, fuhr er sie an. »Und es ändert nichts daran, was passieren wird, wenn wir
Scheiße bauen. Hör zu …« Er blickte den Flur hinab, um sich zu vergewissern, dass sie allein waren. »Ich muss sicher sein können. Bis du in der Lage, das mit uns durchzuziehen?«
Sie schaute ihn aus ihren grünen Augen an. »Ja.«
»In Ordnung.« Tatsächlich war nichts in Ordnung, aber er musste etwas Zeit gewinnen. Jetzt, wo so viel auf dem Spiel stand, konnte er es sich nicht leisten, eine übereilte Entscheidung zu treffen. Er klopfte an die Tür, und Pétain öffnete sofort. »Sagen Sie Ramirez, er soll seinen Krempel zusammenpacken. In fünf Minuten geht’s los.«
14
Madrid
Die Gasse hinter dem Sofitel Madrid Plaza de España war alles andere als ideal, denn sie war hell, offen und sauber. Vier Lieferanteneingänge führten in das Luxushotel mit den siebenundneunzig Zimmern, und vor den sauberen Betonwänden seiner Hinterseite stand eine Reihe von Müllcontainern. Mit anderen Worten, diese Gasse wirkte fast einladend, und man musste jederzeit damit rechnen, dass jemand durch eine der Türen trat - ein Hausmeister, ein verirrter Gast oder ein Kellner, der schnell eine Zigarettenpause einlegen wollte. Glücklicherweise passierte es nicht in den vier Minuten, bis der Lieferwagen eintraf, und es tauchte auch kein Stadtstreicher auf, um in den Abfällen herumzuwühlen. Als die Seitentür des Fahrzeugs aufglitt und sie einstiegen, besserte sich Kealeys Stimmung. Der Auftakt der Operation war perfekt über die Bühne gegangen, und wenn das Glück ihnen treu blieb, würde es ihnen vielleicht gelingen, diese Geschichte erfolgreich durchzuziehen.
Ramirez war als Einziger nicht eingestiegen. Er ging zur Tür auf der Fahrerseite, die sich umgehend öffnete. Der Fahrer stieg aus, den Schlüssel im Zündschloss stecken lassend. Dann schlenderte er die Gasse hinab und verschwand kurz darauf in der Menschenmenge auf der Calle de Tutor. Wie alle anderen Agenten wusste auch er, was geschehen würde, doch Kealey zog es vor, mit einem vierköpfigen Team loszufahren. Seiner Erfahrung nach zahlte es sich immer aus, mit
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