Der Agent - The Invisible
»Verstanden?«
Pétain nickte erneut. »Verstanden.«
»Was ist mit dir?«, fragte Naomi.
Er schaute sie an und runzelte die Stirn, tief beunruhigt über ihren Anblick. Sie schwitzte noch immer stark, ihre Glieder zitterten, und ihr Gesicht war völlig ausdruckslos. Ihr Äußeres allein reichte aus, um Aufmerksamkeit zu erregen, und das durfte nicht sein. Er musste mit ihr eine öffentliche Toilette suchen, wo sie sich waschen konnte. Anschließend mussten sie sich um neue Klamotten kümmern.
»Du kommst mit mir, Naomi.« Er drehte sich noch einmal zu Pétain um, doch die schlängelte sich bereits durch die dichte Menge von Passanten, von denen etliche stehen geblieben waren und auf die schwarze Rauchwolke starrten, die über die Gebäude trieb. Er packte Naomis Hand und zog sie in die entgegengesetzte Richtung. Wie würde Harper reagieren, wenn er die Neuigkeiten erfuhr? Sie hatten den Namen, den sie aus Ghafour herauspressen sollten, doch irgendwie glaubte er nicht, dass das ausreichte, um zu rechtfertigen, was gerade passiert war. Eigentlich konnte die Lage kaum deprimierender
sein. Mindestens ein unschuldiger Mensch war ums Leben gekommen, und jetzt - ungeachtet des Erfolgs der Operation -, mussten sie die Konsequenzen tragen. Die einzige Frage war, wie schlimm es werden würde.
20
Washington, D. C.
Jonathan Harper saß mit einem unguten Gefühl im Oval Office. Den auf einem Beistelltisch stehenden Kaffee hatte er nicht angerührt. Mittlerweile wartete er seit zehn Minuten, die ihm sehr lang vorkamen, und er rechnete nicht damit, dass der Präsident im nächsten Moment eintreten würde. Vor ein paar Minuten war Direktor Andrews herausgebeten worden, und jetzt konnte er allein darüber nachdenken, was als Nächstes geschehen würde - beobachtet von einem Mann vom Secret Service, der mit einem ernsten Gesicht an der Tür stand. In Gedanken war er bei den Ereignissen von Madrid, die sich vor knapp drei Stunden zugetragen hatten. Ihm war klar, dass man ihn schon eher ins Weiße Haus gebeten hätte, wenn der Präsident nicht durch eine Pressekonferenz verhindert gewesen wäre. Die dadurch gewonnene Zeit hatte er so gut wie möglich genutzt, um Kealeys Informationen zu verarbeiten. Er hatte kurz nach der fatalen Episode mit Kamil Ghafour angerufen. Was er insgesamt zu berichten hatte, war alles andere als angenehm, aber der Name Benazir Mengal schien vielversprechend nach dem, was die operative Abteilung bisher über ihn wusste.
Als er nach der Kaffeetasse griff, ließ ihn ein stechender Schmerz in der linken Brusthälfte zusammenzucken. Er wusste nur zu gut, was folgen würde, und lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück, ganz darauf konzentriert, seine Atmung
unter Kontrolle zu bekommen. Mittlerweile wusste er, wie schwierig das war; tat er nichts, verschlimmerte das die anderen Symptome nur. Der Schmerz wurde zunehmend stärker, es war, als würde das Herz in seiner Brust zusammengepresst. Dann, nach einer Minute schier unerträglicher Qual, war das Schlimmste überstanden, und es wurde allmählich besser.
»Sir?« Er öffnete die Augen und sah den besorgten Leibwächter vom Secret Service vor sich stehen. »Alles in Ordnung, Sir? Soll ich einen Arzt rufen?«
»Nein«, antwortete Harper mit einem matten Lächeln. »Das kommt wieder in Ordnung. Es kommt und geht … Glauben Sie mir, ich gewöhne mich allmählich daran.«
Der Mann schien sich unwohl zu fühlen. »Soll ich Ihnen nicht wenigstens ein Glas Wasser holen?«
»Ja, das wäre schön. Vielen Dank.«
»Keine Ursache, Sir.« Er ging zu einem anderen Tisch, um ein Glas mit eisgekühltem Wasser einzuschenken. Einen Moment später reichte er es Harper, noch immer äußerst besorgt wirkend. Nachdem er sich erneut bedankt hatte, leerte Harper das Glas zur Hälfte und zog dann ein Taschentuch hervor, um sich den kalten Schweiß von der Stirn zu wischen. Dann lehnte er sich zurück und versuchte, sich zu entspannen. Im Lauf der nächsten Minuten normalisierte sich seine Atmung. Es war, wie er gerade gesagt hatte, der Schmerz kam und ging, aber es stimmte nicht, dass er sich allmählich daran gewöhnte. Die Anfälle waren eine regelmäßige Erinnerung an die Kugel, die ihn vor acht Monaten niedergestreckt hatte. Oder - genauer - an die vier Kugeln, auch wenn eine mit Abstand am meisten Schaden angerichtet hatte. Die Ärzte sagten, die Folgen würden ihm noch lange zu schaffen machen, und nach den bisherigen Erfahrungen glaubte er ihnen aufs
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