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Der Albtraum meiner Kindheit und Jugend - Zwangseinweisung in deutsche Erziehungsheime

Der Albtraum meiner Kindheit und Jugend - Zwangseinweisung in deutsche Erziehungsheime

Titel: Der Albtraum meiner Kindheit und Jugend - Zwangseinweisung in deutsche Erziehungsheime
Autoren: Regina Page
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gebrauchten vom Vorjahr.
    Ich habe lange auf der Mauer gesessen, es wurde schon etwas schummrig am Himmel und ich weinte auf einmal bitterlich. Ich dachte an die Angst um unsere Mutter, an die vielen Arbeitsstunden die wir täglich absolvieren mussten, an das Gelächter der Klassenkameraden, weil wir keine Schuhe trugen. Jeder sah uns schon an der Kleidung an, dass wir aus dem Kinderheim kamen. Zudem war unser Verhalten in der Schule auffällig, wir drückten uns lieber in der Schulpause allein an der Mauer herum, wo keiner von den Einheimischen stand. Und wir, aus dem Heim, waren dem Gelächter der ganzen Schule ausgesetzt. Wir sahen schmächtig aus, die Arme und Beine waren dünn und kraftlos. Der ewige Hunger und die vielen Entbehrungen machten sich bemerkbar. Die Spulwürmer, die sich zeitweise in unserem Körper aufhielten, taten das übrige.
    Endlich konnte ich weinen, das konnte ich in dem Heim nicht. Da durfte ich keine Gefühle zeigen. Jetzt erwischte ich mich dabei, hatte ich doch meine Hände zum Gebet gefaltet. Das was mir in der Kapelle oder in der Kirche zuwider war. Erschreckt von dieser Erkenntnis, dass ich beten wollte, nahm ich schnell wieder meine Hände auseinander. Im Heim war Beten eine Pflicht und wehe dem, den man mit Gleichgültigkeit in der Kirche erwischte und dann noch vor dem Altar, beim lieben Gott. Dieses Beten war für mich eine Strafe, beim Beten knurrte mir schon am Morgen der Magen vor Hunger, der Weihrauch tat das übrige, mir wurde jedes Mal schlecht vom Geruch, meine Knie taten weh, ich hielt mich an der Kirchenbank fest, damit ich nicht umkippe.

    Warum bete ich hier? Erschrocken stand ich auf, riss mich aus meinen Gedanken und lief die Treppen hinauf in den vierten Stock. Dort wischte ich meine Tränen aus dem Gesicht. Schnell nach Hause in unser Zimmer, in die Wohnung von Fräulein Pick. Da fühlte ich mich geborgen und sicher, zog mich in eine Zimmerecke zurück und spielte mit unserem selbstgebastelten Spielzeug.

    Das Bespitzeln der Nachbarn ging weiter, jetzt nicht mehr so auffällig, unsere Mutter hörte weiter den Rias Berlin, nur nicht mehr so laut. „Keine Provokation“, sagte sie, „zweieinhalb Jahre Aufenthalt in der Psychiatrie sind genug.“
    Es waren nicht alle Nachbarn daran beteiligt, uns zu belauern, es gab auch nette Nachbarn in unserer Umgebung, die sich auch wie wir, am Westsender orientierten.
    Unmittelbar vor unserem Wohnbereich war die Grenzstation Sonnenallee. Keine Mauer, kein Stacheldraht, doch die Grenzsoldaten waren immer präsent. Diese Soldaten kamen uns nicht ganz geheuer vor und wir machten einen großen Bogen um sie herum, dass sie uns nicht in ihrem Blickwinkel hatten.
    Eine Straße weiter war ein Graben der „Kuhgraben“ hieß. Ein kleiner Übergang nach West-Berlin. Das war immer unser Weg „nach drüben“. Mal kauften wir uns ein Mickey Mouse Heft für Ost-Mark 2.50, das war zu dieser Zeit der Wert für 50 Westpfennige. Dieses Geld hatten meine Schwester Elke und ich uns erarbeitet, indem wir Blumen pflückten und diese dann an den Wohnungstüren verkauften. Bei einer Dame bekamen wir oft getrocknete Birnen vom Jahr zuvor – die sehr köstlich schmeckten – für unsere gesammelten Werke. Wir boten unsere Dienste an, kleine Gefälligkeiten, Zigaretten holen oder für den Mann des Hauses, aus der Nachbarschaft, holten wir frisch gezapftes Bier aus der Kneipe an der Ecke. Wenn wir Hunger hatten, gingen wir mit unseren Blumen erst zu dieser Frau. Sie nahm uns die Blumen, die oft verwelkt waren, mit großer Freude ab, sie tat so, als kämen diese Blumen grade zur rechten Zeit. Oder wir nahmen das gesammelte Ostgeld, tauschten es am Zeitungskiosk in der Sonnenallee in Westgeld ein, und gönnten uns einen Kinobesuch im Westen.
    Was kamen wir uns toll vor! Das Kino hieß „Orion“. Dafür liefen wir Kilometer weit, aber wir waren es gewöhnt, auch die weitesten Strecken zu Fuß zu erobern. Ein Kinobesuch war immer ein großes Erlebnis.

Die Flucht

    Der „Kuhgraben“ war eines Tages unsere Rettung; denn unsere Mutter schleppte mit unserer Hilfe, Stück für Stück, das bisschen Hab und Gut, was wir noch aus unserer Heimat Elbing in Ostpreußen hatten, über diese nicht einsehbare Grenze. Das machten wir bei einem Spaziergang am Sonntagnachmittag. Es war die Zeit, in der auch die anderen aus dem Ostsektor über die Grenze gingen, eine gute Tarnung.
    In West-Berlin hatten wir einen Großonkel, mit einer Laube und einem wunderschönen
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