Der Algebraist
angeblich auch klügeren Dwellern trotz
seines niedrigen Alters für reif erachtet worden. Er war ein
anderthalb Millionen Jahre altes Wunderkind – jedenfalls, als er
noch lebte. Außerdem war er, als Fassin ihn zum letzten Mal
gesehen hatte, kräftig, stark und sehr vital gewesen. Gewiss, er
hatte seine rotierende Schnauze fast immer in einer Bibliothek
vergraben und war nicht viel ins Freie gekommen, trotzdem konnte
Fassin nicht glauben, dass er nicht mehr am Leben sein sollte. Bei
den Dwellern gab es nicht einmal Krankheiten, an denen er hätte
sterben können. Wie konnte er tot sein?
»Segelunfall, wenn ich mich recht erinnere«, sagte
Y’sul. »Stimmt das auch?« Fassin spürte, wie der
Dweller eine Infoanfrage an die Verbindungswände des
Bibliothekssaals schickte. »Ja, es stimmt! Es war ein
Segelunfall. Sein Sturmjammer geriet in einen besonders üblen
Wirbel, und das Schiff fiel einfach auseinander. Er wurde vom
Hauptmast oder einer Rah aufgespießt. Erfreulich ist, dass man
die Jacht zum größten Teil retten konnte, bevor sie in den
Tiefen versank. Er war ein begeisterter Segler. Schrecklich
ehrgeizig.«
»Wann war das?«, fragte Fassin. »Ich habe nichts
davon gehört.«
»Noch nicht lange her«, sagte Y’sul.
»Höchstens zweihundert Jahre.«
»In den Nachrichten wurde nichts gemeldet.«
»Wirklich? Ach! Warte.« (Wieder eine Infoanfrage.)
»Ja. Wie ich höre, hat er Anweisung hinterlassen, seinen
Tod als Privatsache zu behandeln.« Y’sul dehnte die
Spindelarme auf den Radnaben zu beiden Seiten. Streckte sie alle
waagrecht nach außen. »Kann ich gut verstehen! Habe das
auch getan.«
»Wurde irgendwo festgehalten, was aus seiner Bibliothek
geworden ist?«, fragte Fassin.
Y’sul schaukelte wieder, die zwei konischen Riesenräder
drehten sich langsam von Fassin weg und kippten wieder nach vorne.
Dann verharrte Y’sul im Gas und sagte: »Weißt du
was?«
»Was?«
»Nein. Keinerlei Unterlagen! Ist das nicht
merkwürdig?«
»Wir… ich würde mich wirklich gern eingehender mit
der Sache befassen, Y’sul. Kannst du uns dabei helfen?«
»Ganz sicher… äh, da wir gerade von Nachrichten
sprechen, hier kommt gerade etwas über eine ungenehmigte
Fusionsexplosion nicht weit von da, wo du dich über den
WolkenTunnel gemeldet hast. Hat das irgendwas mit dir zu
tun?«
Verdammte Scheiße, dachte Fassin wieder einmal.
»Ja. Sieht so aus, als hätte es jemand auf mich abgesehen.
Vielleicht auch auf den Colonel hier.« Er deutete auf
Hatherences Schutzanzug, der immer noch neben ihm schwebte. Sie
schwieg schon eine ganze Weile. Fassin war nicht sicher, ob das ein
gutes Zeichen war.
»Ich verstehe«, sagte Y’sul. »Und wenn wir
schon über den guten Colonel sprechen, ich gebe mir alle
Mühe, ihre Berechtigung ausfindig zu machen. Ich meine, wieso
ist sie überhaupt hier?«
»Nun«, sagte Fassin, »wir sahen uns durch
unprovozierte feindliche Angriffe genötigt, früher als
geplant in Nasqueron Schutz zu suchen. Die Genehmigung für den
Colonel wurde vor unserer Abreise beantragt, war aber noch nicht
eingetroffen, als wir zu unserem Noteintritt gezwungen wurden. Der
Colonel ist technisch gesehen ohne offizielle Genehmigung hier und
bittet deshalb als Schiffbrüchige, Kriegsflüchtling und
obdachlose Gasriesenbewohnerin um Aufnahme.« Fassin drehte sich
um und sah den Colonel an. Sie rotierte um ihre Vertikalachse und
erwiderte den vom Gasschiff gelenkten Blick. »Sie stellt Antrag
auf Asyl«, schloss er.
»Das wird natürlich vorläufig gewährt«,
sagte Y’sul. »Obwohl die genaue Bedeutung von
›unprovoziert‹ in einem größeren Zusammenhang
umstritten sein könnte und auch die exakte Definition von
›Schiffbrüchige‹ zu diskutieren wäre, wenn man
besonders penibel sein wollte. Kann ich davon abgesehen deinen Worten
entnehmen, dass da draußen bei euch gewisse
Meinungsverschiedenheiten ausgetragen werden?«
»Du hast ganz richtig verstanden«, antwortete
Fassin.
»Oh nein, bitte nicht schon wieder einen von euren
Kriegen!«, protestierte Y’sul und rollte in einer Weise den
ganzen Körper zurück, die es dem Menschen vergleichsweise
leicht machte, die Bewegung als Gegenstück eines Augenverdrehens
zu interpretieren.
»Nun, man muss es wohl so nennen«, gestand Fassin.
»Mit welcher Begeisterung ihr euch gegenseitig Schaden
zufügt, erstaunt, entzückt und entsetzt mich immer
wieder.«
»Wie man hört, bahnt sich zwischen Zone 2 und
Gürtel C ein Formalkrieg an«, bemerkte
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