Der Algebraist
rutschte. Dann regte sich der Weise Jundriance. Als es Morgen
wurde, hatte sich auf dem Bildschirm tatsächlich etwas
verändert. Eine neue Seite war erschienen. Der Tag verging
schnell, die nächste Nacht noch schneller. Sie verlangsamten
weiter, bis sie einen Faktor von eins zu vierundsechzig erreicht
hatten. Hier sollte sich Jundriance mit ihnen treffen – vor
ihrer Ankunft war er noch langsamer gewesen.
Etwa auf halbem Wege hatte ein Flüstersignal das kleine
Gasschiff erreicht. – Können Sie mich empfangen,
Major?
- Ja. Warum?
- Ich habe eben den Lesebildschirm abgefragt. Er lief bis zur
Ankunft der Boaflias in Echtzeit.
- Sind Sie sicher?
- Absolut.
- Interessant.
Endlich waren sie am Ziel, ihr Lebenstempo war mit dem des Weisen
synchron. Über ihnen flackerten langsam, langsam die kurzen Tage
vorbei, der orange-violette Himmel über der Diamantfolie
wechselte zwischen Hell und Dunkel hin und her. Auch jetzt hingen die
mächtigen Gasschleier noch scheinbar reglos über ihnen am
Himmel. Fassin erging es wie immer, wenn er bei einem Trip zum ersten
Mal auf ›Langsam‹ schaltete, er hatte das beunruhigende
Gefühl, eine verlorene Seele in einem tiefen Kerker zu sein, ein
Gefangener der Zeit, dem draußen, weit über ihm in einer
anderen Welt, das Leben davonlief.
Jundriance hatte sich von seinem Leseschirm abgewandt, um sie zu
begrüßen. Fassin hatte eigentlich nach Valseir gefragt,
aber irgendwie waren sie auf das Thema Lebenstempo gekommen.
»Die ›Schnellen‹ sollten einem wohl Leid tun«,
sagte der Weise. »Sie scheinen in diesem Universum nicht am
rechten Platz zu sein. Die weiten Wege zwischen den Sternen, die
Zeit, die man braucht, um von einem System zum anderen zu
reisen… Und wenn man erst an die Entfernungen zwischen den
Galaxien denkt…«
Eine Pause trat ein. »Natürlich«, sagte Fassin, um
sie zu füllen. Wonach willst du mich aushorchen, Alter?, dachte er.
»Die Maschinen waren natürlich noch viel schlimmer. Es
muss doch unerträglich sein, so schnell zu leben.«
»Inzwischen leben die meisten gar nicht mehr, Weiser«,
sagte Fassin.
»Vielleicht ist das ganz gut so.«
»Weiser, können Sie uns mehr über Valseirs Tod
erzählen?«
»Ich war nicht dabei. Ich weiß nicht mehr als
du.«
»Sie waren mit ihm… befreundet?«
»Befreundet? Nein. Nein, das würde ich so nicht sagen.
Wir hatten über die Verifizierung von Texten und ihre
Herkunftsbestimmung korrespondiert und Ferndebatten über
verschiedene akademische Fragen und Interpretationsmöglichkeiten
geführt, aber nicht regelmäßig. Persönlich haben
wir uns nie kennen gelernt. Würdest du das als
›Freundschaft‹ bezeichnen?«
»Wohl eher nicht. Aber dann frage ich mich, was Sie hierher
geführt hat.«
»Oh, ich wollte mir seine Bibliothek ansehen und so viel wie
möglich an mich nehmen. Deshalb bin ich hier. Seine Diener haben
einiges an Material fortgeschafft, bevor sie gingen, dann kamen
andere – zumeist Wissenschaftler oder Leute, die sich als solche
bezeichnen – und bedienten sich, aber es ist immer noch vieles
geblieben. Die größten Schätze sind zwar nicht mehr
da, aber vielleicht findet sich doch noch so manches Kleinod, das man
sich nicht entgehen lassen sollte.«
»Ich verstehe. Und was geschieht mit Valseirs Bibliotheken?
Wie ich hörte, wollen Sie die Katalogisierung
fortsetzen?«
Eine Pause. »Fortsetzen. Ja.« Der alte Weise mit dem
dunklen Panzer starrte auf den schwarzen Leseschirm. »Hmm«,
sagte er, drehte sich ein wenig zur Seite und sah Fassin an.
»Mal sehen. In welchem Sinn verwendest du das Wort
›fortsetzen‹?«
»Valseir soll dabei gewesen sein, seine Bibliotheken zu
katalogisieren. Ist das nicht richtig?«
»Er war immer so verschwiegen. Nicht wahr?«
- Ich fange Streustrahlung von Lichtbotschaften auf, sendete Hatherence.
- Sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie gleich wieder etwas
empfangen.
»Und er trödelte gern. Hapuerele sagte immer, eher
würde Valseir den Segelcup ›Alle Stürme‹ gewinnen
als jemals die Katalogisierung seiner Bibliothek
abzuschließen.«
Wieder eine Pause. »Ganz recht, ganz recht. Hapuerele,
jawohl.«
- Streustrahlung. Hapuerele existiert nicht?
- Doch, aber er musste sich eben nach ihm erkundigen.
Hätte er besser nicht getan.
»Ich würde mich gern selbst in einigen der Bibliotheken
umsehen. Sie haben hoffentlich nichts dagegen. Ich werde Sie nicht
stören.«
»Ach so. Ich verstehe. Nun, wenn du diskret sein kannst.
Suchst du nach etwas
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