Der Algorithmus der Liebe: Roman (German Edition)
eine Comicfigur, die in eine Steckdose gefasst hat. Und in dieser Mähne saß Sam wie in einem Nest und raffte die Haare zusammen, um sie wie Schnee in die Luft zu werfen. Auf dem zweiten Foto stillte sie ihn, und er hatte eine Locke ihrer tollen M ähne mit seiner winz igen Faust umklammert und zog heftig daran, was selbst beim Wrestling ein Regelverstoß gewesen wäre.
So sehr Sam sein Gedächtnis durchforstete, er konnte nicht heraufbeschwören, wie sich ihre Haare angefühlt hatten. Als er sieben war, hatte er seinen Vater gefragt, welches Shampoo und welche Spülung sie benutzt hatte, und sie sich gekauft, um daran zu schnuppern und so vielleicht sein Erinnerungsverm ögen anzuregen. Mit zehn Jahren hatte er sich – inspiriert von Polizeiserien im Fernsehen – in ihren Sachen auf die Suche nach Haarproben gemacht. Sein Vater hatte die Kisten mit ihren Sachen eigentlich spenden wollen, dann aber doch nur die Energie aufgebracht, sie in den Keller zu tragen, wo sie seither standen. Sam war es tatsächlich gelungen, aus alten Pullovern, Kleidern und Jacken und dem Scharnier einer Sonnenbrille sieben einigermaßen brauchbare Strähnen zu gewinnen, die er mit Klebeband am Rückendeckel seines Lieblingsbuchs befestigt hatte. Mit zittrigen Kinderfingern hatte er stundenlang darübergestrichen, es aber auch nicht geschafft, auf diese haptische Weise seine Erinnerung zurückzugewinnen, ja nicht einmal auf okkulte Weise, obwohl er beim Gläserrücken mit Genevieve Trouvier eine wertvolle Strähne geopfert hatte. Als er später anfing, sich mit Mädchen zu treffen, beobachtete er sich selbst genau, um herauszufinden, ob er eine Schwäche für Mädchen mit besonders dicken Haaren hatte oder ob er zumindest mehr als andere dazu neigte, mit den Händen durch ihre Kurzhaarfrisuren zu wuscheln oder ihre Zöpfe um den Finger zu wickeln oder beim Flirten spielerisch an ihren Ponyfransen zu zupfen. Aber er konnte nichts dergleichen feststellen, jedenfalls nichts, was über normales Verhalten hinausging. Überhaupt schien » normal « das geeignete Prädikat für Sams kurze Beziehung zu seiner Mutter zu sein. Aber so normal diese Beziehung auch gewesen war, sie ließ sich nicht zurückholen, nicht einmal ein einziger Moment. Meredith hingegen war so viel von Livvie geblieben. Im Vergleich zur vollkommenen Abwesenheit seiner Mutter schien ihm Livvie immer noch überall präsent zu sein.
Am letzten Tag der regulären Saison gingen Sam und Meredith zusammen zum Baseball, eine Tradition, die Meredith und Livvie über Jahre gepflegt hatten. Weil Livvie meist am Tag danach nach Florida flog, markierte dieses letzte Spiel das offizielle Ende des Sommers, auch wenn das Wetter oft schon lange vorher schlecht wurde und Merediths Ferien längst vorbei waren. Mit dem Buchen ihres Flugs wartete Livvie immer, bis die Seattle Mariners garantiert keine Chancen mehr auf die Play-offs hatten, selbst in Jahren – und davon gab es einige –, in denen schon im April feststand, dass sie unbesorgt abreisen konnte. Die Tickets für das letzte reguläre Saisonspiel kaufte sie hingegen grundsätzlich schon, sobald der Kartenverkauf für Einzelspiele freigegeben wurde. Diese Tickets fanden Meredith und Sam am Morgen des Spiels, als sie auf der vergeblichen, aber gründlichen Suche nach Kondomen (Sam war sich sicher, Nachschub gekauft zu haben) die Nachttischschublade durchwühlten.
Meredith war seit Livvies Tod zu keinem einzigen Spiel mehr gegangen und ertrug es auch nicht, die Spielergebnisse im Fernsehen zu sehen oder in der Zeitung zu lesen. Sam hatte die Saison daher mit Kopfhörern übers Internet verfolgt, was kein Problem für ihn war. Aber jetzt fand er, dass sie zum letzten Spiel gehen sollten.
»Wäre doch schade, die Tickets verfallen zu lassen «, argumentierte er.
»Kann ich verschmerzen«, antwortete Meredith.
»Deine Großmutter würde aber wollen, dass wir hingehen.«
»Woher weißt du das?«
»Weil sie Mariners-Fan war. Und weil ihr am letzten Spieltag immer im Stadion wart.«
»Es regnet aber in Strömen. An so einem Tag geht man nicht zum Spiel.«
»Das Stadion ist überdacht. W as sollen wir außerdem sonst bei diesem Wetter tun?« Sam hatte eine Weile gebraucht, bis er gelernt hatte, Baseball als Aktivität für Regentage zu betrachten. Aber inzwischen hatte er sich daran gewöhnt.
»Ich hasse Baseball«, sagte Meredith.
»Du liebst Baseball«, widersprach Sam.
»Das war früher. Jetzt hasse ich es . Weil mich alles an
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