Der Algorithmus der Liebe: Roman (German Edition)
sind sie nicht. Sie haben eine beruhigende Wirkung. Nur reicht es leider nicht, zu wissen, was sie sagen würde. Es geht darum, sie das, was ich vorher schon weiß, auch wirklich sagen zu hören. Die Vertrautheit ist tröstlich. Mich auf ihren Platz zu setzen und zu sagen, was sie sagen würde, zu wissen, dass sie mich bei allem, was ich ihr auch erzähle, unterst ützen und stolz auf mich sein wü rde … das macht mir nur noch deutlicher, dass sie nicht mehr da ist. Das Wissen allein zählt nicht. Ich will einfach nur wieder bei ihr sein oder von ihr hören, auch wenn es nur per E-Mail oder SMS ist, selbst wenn sie nur eine Verabredung zum Abendessen absagen möchte. Ich will glauben, dass sie immer noch irgendwo existiert. Ich komme damit klar, sie zu vermissen, während sie in Florida ist. Ich komme damit klar, sie ein paar Monate lang zu vermissen. Ich weiß nur nicht, ob ich auch damit klarkomme, sie für immer zu vermissen.«
Sam hätte antworten können: »Sie zu vermissen ist etwas Gutes. Das zeigt, wie sehr du sie geliebt hast.« Er hätte antworten können: »Sie zu vermissen ist etwas Gutes. Das bedeutet, dass du trauerst.« Oder: »Du hast Glück, dass ihr euch so nahestandet.« Oder: »Du hast Glück, dass du sie so lange in deinem Leben hattest.« Oder sogar: »Was hältst du vom neuen Schlagmann der Mariners?« Aber Sam antwortete: »Vielleicht solltest du ihr eine E-Mail schicken. Nur damit du dich besser fühlst.«
Meredith lachte. »Als ich sechs war, habe ich meiner verstorbenen Schildkröte einen Brief geschrieben.«
»Und was hast du geschrieben?«
»Ich weiß es nicht mehr. ›Lieber Herr Schildkröte, danke, dass du so ein liebes Haustier warst. Tut mir leid, dass du gestorben bist. Ich hoffe, dir gefällt es im Schildkrötenhimmel.‹ So was in der Art. Meine Mutter dachte, es hätte vielleicht eine therapeutische Wirkung.«
»Und? War es so?«
»Weiß ich nicht mehr. Aber ich we iß noch, dass ich Ärger bekommen habe, weil ich den Brief in den Bach geworfen habe. Mein Vater war sauer auf mich, dabei hat er den toten Herrn Schildkröte doch auch in den Bach gelegt, also war es der logische Ort für den Brief. Ich konnte nicht verstehen, warum es Umweltverschmutzung sein sollte, einen Brief in den Bach zu werfen, aber in Ordnung war, eine tote Schildkröte dort abzulegen.«
»Das is t das Schöne an E-Mails«, sagte Sam. »Da gibt es wenigstens einen Ort, an den man sie schicken kann und an den sie dann gehen.«
Meredith schrieb ihrer Großmutter tatsächlich eine E-Mail, weil sie hoffte, dass sie sich danach besser fühlte. Aber es funktionierte nicht. Wie hätte es auch? Selbst für eine E-Mail war das Ganze seelenlos. Sie wusste, dass niemand mehr da war, der die E-Mail empfing. Und Sam wusste es auch. Aber er wusste noch etwas oder ahnte es zumindest. Er ahnte, dass es gar nicht so schwer war, Livvie zu einer Antwort zu bewegen. Schließlich gab es jede Menge Vorlagen, da Livvie zu Lebzeiten fleißig E-Mails verschickt hatte. Und diese E-Mails folgten meist einem immer gleichen Muster und waren daher relativ vorhersehbar, vor allem die an ihre Enkelin. Nachdem Sam Livvies gespeicherte Nachrichten nach Datum gefiltert hatte und nur noch die Winter-E-Mails übrig waren, stellte sich heraus, dass sie fast nur schrieb, dass sie Meredith liebe und vermisse, dass sie hoffe, sie arbeite nicht zu viel, dass es in Florida herrlich heiß und sonnig sei und Meredith unbedingt zu Besuch kommen solle. Manchmal fügte sie noch hinzu, dass sie beim Kartenspielen abgesahnt habe.
Eine der Lieblingsanekdoten von Sams Vater handelte von einem frühen Sprachcomputer-Experiment, das sich ELIZA nannte und in den Sechzigerjahren am Massachusetts Institute of Technology entwickelt worden war. Der Computer spielte Therapeut und hörte sich die Probleme der N utzer an, um per Musterabgleich mit den adäquaten therapeutischen Fragen zu reagieren. Ein Nutzer setzte sich also beispielsweise vor den Computer und tippte: »Meine Schwester hat mich schon immer gehasst.« Und der Computer antwortete: »Warum glauben Sie, Ihre Schwester hätte Sie schon immer gehasst?« Das Programm war gleichzeitig sehr simpel und äußerst komplex, ein Jux, eine Parodie, ein Witz und gleichzeitig bahnbrechende Wissenschaft. Was Sams Vater an der Geschichte am faszinierendsten fand, war jedoch, dass sämtliche mit dem Programm befasste Doktoranden nach Feierabend im Institut blieben, um sich von Eliza therapieren zu lassen. Sie
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