Der Altman-Code
nur ein junger General gewesen. Major Pan mochte nicht viele Menschen. Er hielt das für Zeitverschwendung. Aber Niu Jianxing hatte etwas an sich, das ihn ansprach.
Wie erwartet brach Niu das Schweigen, ohne aufzusehen, aber mit einem Anflug von Hast in der Stimme.
»General Chu sagt, Sie haben einen Bericht, den Sie mir persönlich überbringen sollen.«
»Ja, Herr Niu. Angesichts Ihrer Bitte um Informationen über den Frachter hielten wir es so für das Beste.«
»Die Dowager Empress , ja.« Niu deutete mit einem Nicken auf seine Unterlagen. »Haben Sie, was ich will?«
»Möglicherweise zum Teil«, antwortete Pan bedacht.
Er hatte gelernt, sehr vorsichtig zu sein, wenn es um Feststellungen oder Versprechungen gegenüber hochrangigen Regierungsmitgliedern ging, insbesondere solchen, die dem Ständigen Ausschuss angehörten.
Niu Jianxing blickte abrupt auf. Seine Augen, die eindeutig nichts Verschlafenes hatten, glichen wie zwei harten Kohlepunkten hinter der Schildpattbrille. Die feinen Gesichtszüge symbolisierten Missfallen. »Sie wissen nicht, ob Sie es haben, Major?« Der Geheimdienstmann erlebte einen Moment der Leere. Dann: »Ich weiß es, Herr Niu.« Die Eule setzte sich zurück. Er studierte den kleinen, pummeligen Major Pan, seine kleinen Hände, seine sanfte Stimme, sein freundliches Lächeln. Wie üblich trug Pan einen konservativen westlichen Anzug. Er war der perfekte Agent – aalglatt, anonym, klug und engagiert. Trotz alledem war Pan auch ein Produkt der Kulturrevolution, des Tiananmen-Massakers und des starren Systems, das dem Individuum wenig Spielraum ließ. Dazu kam schließlich noch die fünftausendjährige Geschichte Chinas, die das Individuum nicht sehr hoch einschätzte. Falls Niu weiter auf Ja-oder-nein-Antworten bestand, würde der Major lieber nein sagen, als ein positives Statement abzugeben, das als Erfolgsmeldung ausgelegt werden konnte. Wenn er schon vor der Sitzung des Ständigen Ausschusses alles erfahren wollte, was er, Major Pan, über die Empress in Erfahrung gebracht hatte, dann müsste er es ihn zumindest so berichten lassen, wie es ihm passte.
Niu unterdrückte ein frustriertes Seufzen. »Erstatten Sie Meldung, Major.«
»Danke, Herr.« Pan begann mit Avery Mondragon und seinem Verschwinden am Tag vor Smiths Eintreffen in Shanghai.
»Sie meinen, dieser Mondragon ist – oder war – ein amerikanischer Geheimagent?« Pan nickte. »Ja, aber kein gewöhnlicher. Irgendetwas ist ungewöhnlich an den in diesen Fall verwickelten Amerikanern. Sie verhalten sich zwar wie Spione, aber sie sind keine Spione. Zumindest gehören sie keinem der uns bekannten amerikanischen Geheimdienste an.«
»Trifft das auch auf Colonel Smith zu – den Arzt und Wissenschaftler?«
»Ich denke schon. Seine wissenschaftliche Tätigkeit ist keine Tarnung. Er ist tatsächlich Arzt und Wissenschaftler. Zugleich scheint er jedoch sein Fachwissen als Tarnung zu benutzen.«
»Interessant. Sind diese amerikanischen Agenten möglicherweise für eine Privatorganisation tätig? Für eine Firma zum Beispiel oder auch für eine Einzelperson?«
»Das ist zumindest nicht auszuschließen. Auf jeden Fall werde ich dieser Frage weiter nachgehen.« Niu nickte. »Es könnte allerdings sein, dass es von wenig praktischem Nutzen ist. Wir werden sehen. Fahren Sie fort, Major.« Pan kam langsam in Fahrt. »In Shanghai entdeckte eine Putzfrau im Büro des Präsidenten von Flying Dragon Enterprises die Leiche eines gewissen Zhao Yanji. Flying Dragon ist eine internationale Schifffahrtsgesellschaft mit Niederlassungen in Hongkong und Antwerpen.«
»Wer war Zhao?«
»Der Leiter der Finanzabteilung von Flying Dragon.
Aber abgesehen davon, dass er tot ist, werden auch der Präsident der Firma und dessen Frau vermisst. Der Präsident der Firma heißt Yu Yongfu. Seine Frau ist Yi Kuonyi.«
»Die schöne Schauspielerin?«
»Ja, Herr.« Der Major schilderte, wie Yu Yongfu, vermutlich mit Unterstützung ihres Vaters, des einflussreichen Li Aorong, rasch zu Macht und Reichtum aufgestiegen war.
Die Eule kannte Li Aorong nicht persönlich, aber dem Namen nach. »Ja, natürlich. Li hat einen hohen Posten in der Shanghaier Stadtverwaltung.« Was er nicht sagte, war, dass Li auch der Protegé Wei Gaofans war, eines der Hardliner im Ständigen Ausschuss. Alles in allem betrachtet, war Wei der Mächtigste unter den Hardlinern, und Li Aorong vertrat die gleiche politische Linie wie Wei.
»Ja«, sagte Pan. »Wir haben mit Li gesprochen. Er
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