Der Altman-Code
vorbeiging, versuchte er die Eingangstür. Sie war nicht abgeschlossen. Rasch, aber vorsichtig schlüpfte er nach drinnen und huschte lautlos zwischen den Möbeln hindurch zu der Tür in der hintersten Ecke, auf der sowohl in goldenen chinesischen Schriftzeichen wie in lateinischen Buchstaben stand: YU YONGFU, PRÄSIDENT UND VORSTANDSVORSIT
ZENDER. Unter der Tür fiel kein Licht durch.
Er betrat das Büro, ging in dem durch die offene Tür fallenden Lichtschein auf den großen Schreibtisch zu und knipste die gedimmte Lampe darauf vorsichtig an. Das schwache Band aus gelbem Licht, das dem Büro etwas schummrig Gespenstisches verlieh, würde von der Straße aus nicht zu sehen sein.
Er schloss die Tür und sah sich beeindruckt um. Es war zwar keines der begehrten Eckbüros, aber so riesig, dass seine Größe dieses Manko mehr als wettmachte. Auch der Blick war Prestige in Reinstform – er reichte vom Fluss und den Türmen von Pudong zum historischen Bund, dem nordöstlichen Shanghai auf der anderen Seite von Suzhou Creek und schließlich zurück zum Fluss, der sich dort nach Osten krümmte und dem Jangtse entgegenströmte.
Für Smith war der wichtigste Einrichtungsgegenstand ein Aktenschrank mit drei Schüben, der an der linken Seitenwand stand. Außerdem gab es ein weißes Wildledersofa mit passenden Sesseln, einen gläsernen Noguchi-Couchtisch, auf der rechten Seite ein Regal mit Leder gebundenen Büchern, mehrere Originalgemälde von Jasper Johns und Andy Warhol und ein Panoramafoto von British Shanghai, das um die Wende des 19. zum 20. Jahrhundert aufgenommen worden war. Der Schreibtisch selbst bestand aus Mahagoni und war riesengroß, aber in diesem Raum wirkte er klein. Das Büro erzählte eine Geschichte: Yu Yongfu, Präsident und Vorstandsvorsitzender, hatte es im Neuen China zu etwas gebracht und wollte, dass jeder es merkte.
Smith eilte zum Aktenschrank. Er war abgeschlossen, aber seine Dietriche hatten leichtes Spiel damit. Er zog den obersten Schub heraus. Die Ordner waren in alphabetischer Reihenfolge geordnet – englisch und erst darunter auch chinesisch beschriftet. Noch so eine von Yu Yongfus großspurigen Affektiertheiten. Als Smith den Ordner für die Dowager Empress entdeckte, ließ er den Atem entweichen. Ohne es zu merken, hatte er die ganze Zeit flach geatmet.
Er öffnete den Ordner gleich an Ort und Stelle, auf dem Schrank, aber alles, was er darin fand, waren firmeninterne Mitteilungen und die Ladeverzeichnisse früherer Touren. Mit wachsender Besorgnis machte er weiter.
Endlich, ganz hinten, entdeckte er es – das gesuchte Verzeichnis. Seine Begeisterung war rasch wieder verflogen, als er es las. Die Datumsangaben und die Häfen, Shanghai und Basra, stimmten. Aber die Ladung war falsch. Es war eine Aufstellung der Dinge, die der Frachter angeblich beförderte – Radios, CD-Player, schwarzer Tee, Rohseide und andere harmlose Güter. Dies hier war eine Kopie des gefälschten Ladeverzeichnisses, das bei der Exportkommission eingereicht worden war. Augenwischerei.
Ärgerlich kehrte er zum Aktenschrank zurück und durchsuchte die anderen Schübe, fand aber nichts, was die Empress betraf. Mit einer Grimasse machte er den Schrank wieder zu und schloss ihn ab. Aber er gab noch nicht auf. Irgendwo musste es hier einen Safe geben.
Während er sich in dem riesigen Büro umsah, überlegte er, was für eine Sorte Mensch es so eingerichtet hatte – eitel, selbstgefällig und durchschaubar.
Natürlich. Durchschaubar. Er wandte sich wieder dem Aktenschrank zu. Darüber hing die Panoramaaufnahme des alten British Shanghai. Er nahm das gerahmte Foto von der Wand, und da war er – der Safe. Ein schlichter Wandsafe ohne Zeitschloss oder sonst irgendwelche raffinierte Elektronik, soweit er sehen konnte. Seine Dietriche hätten … »Wer sind Sie?«, fragte eine Stimme in holprigem Englisch.
Bemüht, keine provozierende Bewegung zu machen, drehte sich Smith langsam um.
Im grauen Licht der Türöffnung stand ein kleiner, gedrungener Chinese mit einer randlosen Brille. Er hatte eine SIG Sauer auf Smiths Bauch gerichtet.
Beijing Die Nacht war eine von Beijings besten Tageszeiten, wenn unter dem Sternenhimmel, der einst permanent hinter undurchdringlichem Großstadtsmog verborgen gewesen war, in Enklaven mit pulsierendem Nachtleben der langsame Übergang von verheerender Luftverschmutzung und grauem sozialistischem Alltag zu unverbleiten Kraftstoffen und echtem Highlife sichtbar wurde. Karaoke und
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