Der Altman-Code
Beispiel der Kriegstreiberei dieser …«
»Der Colonel«, entgegnete Niu scharf, »ist Arzt und arbeitet am United States Army Medical Research Institute of Infectious Diseases, einem international hochrenommierten Institut zur Erforschung von Infektionskrankheiten, vergleichbar unseren biomedizinischen Forschungszentren in Beijing und Shanghai.« Der Generalsekretär kam der Eule zu Hilfe. »Ich kenne Dr. Liang aus meiner Zeit in Shanghai gut. Wir dürfen seinem Urteil trauen, was die Frage angeht, von wem seine Kollegen noch etwas lernen können.«
»Außerdem«, fuhr Niu fort, »sind Dr. Liang wegen des Amerikaners Bedenken gekommen.« Im Folgenden wiederholte er, was General Chu Kuairong ihm mitgeteilt hatte. »Ich neige dazu, mich Major Pans anfänglicher Einschätzung des Sachverhalts anzuschließen. Dr. Liang ist für seine Neigung bekannt, immer gleich die Flöhe husten zu hören.«
»Sie nehmen die Möglichkeit eines amerikanischen Spions aber sehr auf die leichte Schulter, Niu«, gab Shi Jingnu zu bedenken. Sein Blick huschte von einem Kollegen zum anderen, um ihre Reaktionen abzuschätzen.
»Das entscheidende Wort ist ›die Möglichkeit‹«, entgegnete Niu. Ohne auf Shi einzugehen, richtete er sich an alle Versammelten. »Wir sollten nicht ganz so viel Vertrauen in Major Pans ›Gefühl‹ haben wie der Leiter unseres Ministeriums für öffentliche Sicherheit. Es ist seine – und Pans – Aufgabe, die Flöhe husten zu hören. Es ist nicht unsere Aufgabe.«
»Und was haben Sie veranlasst?«, wollte der Jünger des Generalsekretärs wissen.
»Ich habe General Chu Anweisung erteilt, diesen Oberst Smith durch Major Pan scharf im Auge zu behalten. Allerdings habe ich ihn nicht ermächtigt, ihn zu verhaften und zu verhören. Dafür müssen erst hinreichend schwerwiegende Beweise vorliegen. Wir leben gerade in Zeiten, die viel Fingerspitzengefühl erfordern, und im Moment haben wir eine amerikanische Regierung, die sehr stark an einer friedlichen Kooperation interessiert ist.« Den Agenten der öffentlichen Sicherheit, der in Shanghai vermisst wurde, erwähnte die Eule nicht. Vorerst gab es darüber nichts Konkretes zu berichten, und er wollte denen, die hinsichtlich des Menschenrechtsabkommens schwankten, keine Schützenhilfe leisten.
Das Nicken allgemeiner Zustimmung, sogar seitens Shi Jingnus und Wei Gaofans, verriet ihm: Wer auch immer erwog, sich dem Abkommen so spät noch zu widersetzen, war noch nicht bereit, es offen zu tun.
Nur Wei konnte sich ein letztes warnendes Wort nicht verkneifen. Seine eng stehenden Augen wurden zu schmalen Schlitzen, als er sagte: »Wir dürfen nicht den Eindruck allzu großer Kooperationsbereitschaft mit den Amerikanern erwecken. Behalten Sie immer im Auge, dass Flöhe sehr unangenehm werden können.«
6 Shanghai Das Zwielicht hatte sich zu nächtlicher Dunkelheit vertieft. In einem teuren Vorort Shanghais ging Yu Yongfu in seinem Arbeitszimmer auf und ab und blickte durch die Glastür in den Garten hinaus. Der Duft frisch gemähten Grases wehte herein. Scheinwerfer beleuchteten die sorgsam ausgesuchten Pflanzen und Bäume, manchmal von oben, manchmal von unten, stets um perfekte Harmonie bemüht. Der englische Garten war einer Anlage nachempfunden, die im frühen 20. Jahrhundert für einen reichen britischen Teehändler entworfen worden war, dessen Villa man vor langer Zeit abgerissen hatte. Yu hatte die Pläne gekauft und zeigte die berühmte Gartenlandschaft gern seinen Gästen aus dem Westen.
Aber an diesem Abend spendete ihm der Garten wenig Trost. Alle paar Minuten sah er auf seine Rolex.
Mit seinen vierunddreißig Jahren wirtschaftlich bereits enorm erfolgreich, sah Yu sogar noch jünger aus, als er war. Schlank und sportlich, ging er täglich in ein exklusives Fitness-Studio in der Nähe seines Handels-und Schifffahrtsunternehmens, Flying Dragon Enterprises. Er achtete auf sein Gewicht genauso penibel wie auf die internationalen Aktien-, Währungs-und Rohstoffmärkte und kleidete sich in schmal geschnittene italienische Anzüge, die er in Rom nach Maß anfertigen ließ. Seine Regimentskrawatten und knöchelhohen Stiefeletten wurden in England von Hand gemacht, seine Hemden in Paris und seine Unterwäsche und Schlafanzüge in Dublin. Aufgestiegen war er zu diesem ungewöhnlichen Wohlstand in den vergangenen sieben Jahren. Aber das war jetzt ja auch ein neues China – ein protziges, hemmungsloses China, ein China im Stil eines von Amerika geprägten
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