Der Altman-Code
vorsichtig den Raum. Die Frau hob den Cognacschwenker und trank ihn in einem Zug leer. Dann griff sie nach der offenen Flasche, schenkte den Schwenker zur Hälfte voll, stellte die Flasche ab und starrte weiter vor sich hin, alles mit den mechanischen Bewegungen eines Roboters.
Die Beretta immer noch schussbereit erhoben, ging Smith lautlos weiter auf sie zu.
Plötzlich sah sie ihn direkt an, und er merkte, dass er sie von irgendwoher kannte, sie schon einmal gesehen hatte. Zumindest ihr Gesicht, das hochgeschlossene Kleid, das sie trug, den majestätischen Gesichtsausdruck … natürlich, aus dem Kino. In irgendeinem chinesischen Film.
Sie war ein Filmstar. Yu Yongfus Vorzeigefrau? Wer auch immer sie war, sie sah ihm direkt in die Augen, scheinbar ohne von der Pistole Notiz zu nehmen.
»Sie sind der amerikanische Spion.« Ihr Englisch war tadellos, und es war eine Feststellung, keine Frage.
»Wie kommen Sie darauf?«
»Mein Mann hat mir von Ihnen erzählt.«
»Ist Yu Yongfu hier?« Sie wandte den Blick ab, starrte wieder in die Ferne.
»Mein Mann ist tot.«
»Tot? Wie ist er gestorben? Wann?« Die Frau wandte sich wieder Smith zu, und dann tat sie etwas Seltsames. Sie sah auf die Uhr. »Vielleicht vor zehn, fünfzehn Minuten. Wie? Das hat er mir nicht gesagt. Wahrscheinlich mit einer Pistole wie der, die Sie in der Hand halten. Sind alle Männer Waffennarren?« Ihre sachliche, emotionslose Stimme und ihre morbide Ruhe ließen Smith erschauern. Wie unter einem beißenden Wind, der über einen Gletscher weht.
»Und alles nur Ihretwegen«, fuhr sie fort. »Ihretwegen haben sie Panik bekommen. Ihr Auftauchen hat sie nervös gemacht. Es hätte Fragen aufgeworfen, denen sie sich auf keinen Fall stellen wollten.«
»Wer sind sie?« Sie trank auch das nächste Glas wieder in einem Zug aus. »Die Leute, die von meinem Mann verlangt haben, dass er sich umbringt. Für mich und die Kinder, wie sie es ausgedrückt haben. Für die Familie. « Sie lachte. Es geschah abrupt, wie eine Explosion. Ein makabrer Laut, mehr wie ein Bellen als wie ein richtiges Lachen. Es war kein Humor darin, nur Bitterkeit. »Sie haben ihm das Leben genommen, um sich zu retten. Nicht vor einer konkreten Gefahr, wohlgemerkt. Nur vor einer möglicherweise drohenden Gefahr.« Ihr für Smith bestimmtes Lächeln war spöttisch. »Und da sind Sie nun, nicht wahr? Auf der Suche nach meinem Mann. Genau, wie sie gesagt haben. Sie wissen immer sehr genau Bescheid, wenn sie ihre Interessen bedroht sehen.« Smith knüpfte an ihren beißenden Spott an. »Wenn Sie Ihren Mann rächen wollen, helfen Sie mir, ihre Machenschaften aufzudecken. Ich brauche ein Dokument, das sich im Besitz Ihres Mannes befand. Es wird sie als die Verbrecher entlarven, die sie sind.«
Sie dachte nach. Ihr Blick bekam etwas Forschendes.
Sie studierte Smiths Gesicht, als hielte sie darin nach Spuren von Falschheit Ausschau. Dann hob sie die Schultern, griff nach der Flasche Remy Martin, schenkte das Glas fast voll und wandte sich ab.
»Oben«, sagte sie hölzern. »Im Safe in unserem Schlafzimmer.« Sie sah ihn nicht wieder an. Stattdessen trank sie von ihrem Cognac und starrte in die Luft, als sähe sie Fragen und Antworten, die sie nicht ganz entziffern konnte.
Smith überlegte kurz. War das alles nur Theater? Vielleicht, um ihn nach oben zu locken, wo sie ihm eine Falle gestellt hatten? Letzten Endes spielte das keine Rolle. Er brauchte das Dokument im Safe. Zu viel stand auf dem Spiel. Um sowohl Wohnzimmer wie Eingangshalle abzudecken, schwenkte er die Beretta von Seite zu Seite, als er sich aus dem feudal eingerichteten Raum zurückzog. Aber im Haus blieb es so still wie in einem Grab.
Er huschte nach oben, wo das Dunkel intensiver war, weil es dort keine Fenster gab, die das Mondlicht hereinließen. Auch im Obergeschoss rührte sich nichts. Weder roch es nach Pulverdampf, noch lagen Leichen herum.
Das einzige Geräusch kam von unten – das Klirren der gegen das Glas stoßenden Flasche, als sich die um ihren toten Mann trauernde Frau im hallenden Wohnzimmer den nächsten Cognac einschenkte.
Das Schlafzimmer befand sich am Ende des Flurs. Es war so groß wie zwei normale Schlafzimmer und chinesisch eingerichtet mit einem mit Vorhängen versehenen Himmelbett aus der späten Ming-Dynastie, zwei Ming-Liegen, verschiedenen Qing-Kommoden und einem Schminktisch sowie Stühlen und niedrigen Tischen aus allen möglichen anderen Epochen. Alle Einrichtungsgegenstände waren reich
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