Der andere Tod
waren, hat Ihre Frau mich aufgesucht und noch einmal ins Gebet genommen. Sie sagte mir, wie gut alles geworden sei, in Amerika. Wie Sie beide wieder zusammengefunden hätten und dass es wie ein Neuanfang sei. Und sie wollte nicht mehr an die alten Zeiten erinnert werden. Und auch Ihnen wollte sie wohl die Erinnerung daran ersparen.«
Wenzlow verstummte. Das war auch gut so, denn ich musste seine Worte wieder sacken lassen. So einfach war das alles nicht auf die Reihe zu bringen.
Immerhin konnte ich jetzt Anouks Sorgen in Sachen Alkohol voll und ganz nachvollziehen. Nur – Anouk hatte immer meine Aufbaupräparate, anfangs natürlich die Medikamente, vorgeschoben.
Ich blickte auf und sah, dass ein schweigender Wenzlow kein unaufmerksamer Wenzlow war. Er beobachtete mich. Was mochte er von solch einem Mann denken, der ein Alkoholproblemgehabt hatte und Erinnerungslücken obendrein? Dass dieser Mann sich bereits um den Verstand getrunken hatte? Auf Wenzlows Gesicht lag ein betretener Ausdruck und etwas wie Mitgefühl.
Ich bedankte mich und erklärte ungeschickt und umständlich, dass ich das alles jetzt erst einmal verdauen müsste. Das wäre ihm sicherlich auch ohne meinen besonderen Hinweis klar gewesen.
»Wenn es etwas gibt, was ich für Sie tun kann …«, murmelte er tonlos. Er fühlte sich sichtlich unwohl in seiner Rolle.
»Lassen Sie’s gut sein. Sie tun doch schon so viel …«
Wenn ich’s nur auch selbst hätte gut sein lassen können. Ob ich mich tatsächlich um den Verstand getrunken hatte?
Ich kehrte ins Krankenhaus zurück. Auf dem Flur der Intensivstation standen Anouks Eltern – ich erkannte sie schon von Weitem, denn Anouks Vater, Arne, sah genauso aus wie auf den Fotos, nur dass seine Glatze noch weiter nach hinten gewandert war. Die beiden älteren Herrschaften gestikulierten wild und redeten ununterbrochen auf eine Schwester ein.
Hella, meine Schwiegermutter, war noch immer eine schöne Frau, hochgewachsen und schlank. Ihr grau durchzogenes Haar hatte sie im Nacken zu einem Knoten gesteckt. Ich musste schlucken. Hella sah aus wie meine Anouk, lediglich um dreißig Jahre älter.
Sollte ich weitergehen oder lieber auf der Stelle kehrtmachen? Bevor ich mich zu einem stillen Rückzug entscheiden konnte, hatte Arne mich entdeckt.
Nun fokussierten mich alle drei. Hellas Gesicht wurde bei meinem Anblick zu Stein. Langsam setzte ich mich in Bewegung und ging auf sie zu. Plötzlich kam mir inden Sinn, wie abgewirtschaftet ich aussah. Ich bereute es ganz besonders, noch immer nicht zu Hause gewesen zu sein, um mich zu rasieren und die Garderobe zu wechseln.
Auf den letzten Metern bemühte ich mich um einen sicheren Schritt. Schließlich streckte ich Anouks Eltern zur Begrüßung die Hand entgegen.
Sie maßen mich mit eisigen Blicken. Keiner der beiden machte Anstalten, meine Hand zu ergreifen. Ich überspielte diese peinliche Situation mit einem Nicken. Forsch wie ein Mann, der nichts zu verbergen hat, sagte ich: »Hella, Arne.«
Noch immer keine Reaktion.
Die Schwester sah von einem zum anderen, räusperte sich und schien einen zuvor fallengelassenen Faden wieder aufzunehmen. »… Wie gesagt, man kann noch nichts Definitives sagen. Am besten sprechen Sie mit Dr. Gmeiner. Er ist morgen früh ab acht Uhr wieder im Haus.«
Anouks Eltern bedankten sich höflich bei der Schwester. Zwischen ihnen und mir hingegen herrschte nach wie vor Funkstille.
So konnte das nicht weitergehen. Ich druckste ein wenig herum, bis ich meinen Satz angemessen formuliert hatte: »Habt ihr denn bereits eine Unterkunft? Ich würde mich freuen, wenn ihr bei uns …«
Hella Svedberg durchbohrte mich mit einem Blick, der mich auf der Stelle verstummen ließ. Dann antwortete sie ebenso schneidend wie laut: »Ich werde doch nicht mit dem Mörder meiner Tochter unter einem Dach wohnen.«
Die Schwester sog scharf die Luft ein, auch Arne schien erschrocken.
Das Einzige, was mir darauf einfiel, war: Anouk ist doch nicht tot! Noch ehe ich diesen Satz aussprechen konnte,wandte Hella sich ab und marschierte mit knallenden Absätzen den Korridor entlang in Richtung Ausgang.
Die nächsten Tage verbrachte ich wie in Trance. Ich war in tiefer Sorge um Anouks Gesundheitszustand und pendelte ständig zwischen dem Krankenhaus und meiner Firma hin und her. Nach Hause kam ich nur, um zu duschen und meine Kleider zu wechseln. Wenn ich nicht bei Anouk saß, versuchte ich, mich mit Arbeit abzulenken. Mein
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