Der andere Tod
wachsamen Blick zum Nachbartisch. Die beiden Männer waren ins Gespräch vertieft. Der jüngere hatte ein Handy in der Hand und gestikulierte; der andere, deutlich älter und schmächtiger, sah sein Gegenüber unverwandt an und zuckte hin und wieder mit den Schultern. Die Szenerie schien Hürli zufriedenzustellen, denn er trank zwei Schluck Kaffee, verzog das Gesicht, rollte die Augen, dass es beinahe komisch wurde, und setzte dann seinen Bericht fort.
»Die Post. Der Briefkasten war nicht besonders voll. Und ich nehme nicht an, dass Sie ihn bei Ihrem … äh … Besuch geleert haben. Also lässt sich Lewinsky die Post bestimmt per Nachsendeauftrag hinterherschicken oder aber er war vor Kurzem dort, um den Briefkasten zu leeren. Möglich wäre in meinen Augen außerdem, dass ein anderer – oder
eine andere
– das für ihn getan hat.«
Ich spürte Hürlis forschenden Blick auf mir. Hastig griff ich nach dem Kaffeebecher und nahm einen weiteren Schluck von dem widerlich süßen Gebräu, das Hürli mir da zusammengemixt hatte. Der Kellner im weißen Hemd rettete mich schließlich aus meinem Ungemach, indem er an unseren Tisch trat, die Menükarte gerade rückte und uns fragte, ob wir noch einen Wunsch hätten. Die Cafeteria würde jetzt schließen.
Ich schüttelte den Kopf, kippte schnell den restlichen Kaffee hinunter, Hürli tat es mir gleich und der Mann versicherte uns, dass wir hier »görne« so lange wir wollten sitzen bleiben könnten – nur leider ohne bedient zu werden. Er stellte unsere Tassen auf sein Tablett und entfernte sich eilig.
Hürli wirkte jetzt ein wenig ratlos. Ich begann mich gerade zu fragen, warum er mir seine Erkenntnisse nicht in aller Ruhe am Telefon hatte mitteilen wollen, als er sich räusperte und sagte: »Tja, und da wäre noch etwas.«
Er rutschte auf seinem Sitz hin und her. Offenbar hatte er mit sich zu ringen.
Ich seufzte. Er blieb stumm.
Nun konnte ich es nicht länger aushalten. »Also, Hürli, jetzt mal raus mit der Sprache, schließlich bin ich Kummer gewöhnt.«
»Ich war in Lewinskys Wohnung.«
»Wie haben Sie das denn angestellt, ohne Schlüssel?«
Hürli winkte ab, lächelte müde und wurde sofort wieder ernst.
»Jedenfalls habe ich Lewinskys Telefon gecheckt. Die letzte Nummer, die vom Apparat in seiner Wohnung aus gewählt worden ist, war die Handynummer Ihrer Frau. Der letzte Anruf, den er bekommen hat, kam von Ihrem Festnetzanschluss in Bregenz. Was mich dabei jedoch überrascht hat, war das Datum: Er hat den Anruf vor über zwei Jahren, am 4. Januar, um 17.48 Uhr, entgegengenommen. Also genau am Abend vor dem Brand.«
Ich brauchte eine ganze Weile, ehe mir die volle Bedeutung von Hürlis Worten klar wurde. Das Blut rauschte in meinen Ohren. Wie aus weiter Ferne sah ich den Kellner im weißen Hemd, der nachlässig über die Tische wischte.
Was hatte Hürli da gesagt? Vielleicht hatte ich mich verhört, vielleicht hatte ich mit offenen Augen vor mich hin geträumt. Aber Hürlis Gesichtsausdruck zufolge gab es keinerlei Zweifel – ich hatte richtig gehört. Jetzt musste ich ihm
alles
sagen,
absolut alles
.
»Passen Sie auf, Justus.« Es war das erste Mal, dass ich ihn beim Vornamen nannte, vielleicht aus dem Wunsch heraus, so etwas wie Nähe zu einem anderen Menschen herzustellen.
»Ich brauche weiterhin dringend Ihre Hilfe. Ich stecke in Schwierigkeiten und weiß noch nicht einmal, welcher Art sie sind. Sie müssen mir glauben, dass ich die Dinge, die ich früher getan habe – oder getan zu haben scheine, ich weiß es ja nicht mehr –, ehrlich bereue. Inzwischen bin ich schon so weit, dass ich einfach nur noch die Wahrheit herausfinden möchte. Und zwar schonungslos! Denn momentan ist es für mich gerade so, als habe all das gar nie existiert. Aber ich muss doch über mein
ganzes
bisheriges Leben Bescheid wissen.
Hören Sie zu. Ich werde Ihnen jetzt alles erzählen. Alles, was ich weiß, oder besser gesagt, was ich nach meinem Gedächtnisverlust erfahren habe. Eines muss ich noch mal betonen: Ich finde mich darin nicht wieder.«
So lieferte ich Justus Hürli die komplette Version meiner Geschichte. Ich ließ nichts aus, berichtete nun von meinen sexuellen Exzessen, von dem Konto in St. Gallen und den Unsummen, die regelmäßig darauf gebucht worden waren, von den rätselhaften Geschäften mit dem »Fremden«. Was mir besonders schwerfiel, war, Hürli über Anouks Tagebucheinträge zu informieren. Dieses fürchterliche Zerrbild unserer
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