Der andere Tod
Ehe. Und sicherlich war es wahr gewesen.
Damals.
Hürli hatte während meines Berichts ruhig dagesessen,mich nicht unterbrochen, weder durch Nachfragen noch durch emotionale Zwischenbemerkungen. Ein unangenehmes Flattern in der Bauchgegend zeigte mir, wie wichtig Hürlis Reaktion für mich war. Ein Rettungsanker. Der einzige.
Dafür, dass er mir zuhörte, mir half, hätte ich mich gerne erkenntlich gezeigt. Zum Beispiel mit Geld. Aber ich unterdrückte den Impuls. Hürli würde sich nicht von irgendwelchen Summen beeindrucken lassen.
Endlich sagte er: »Sie sind sich ja hoffentlich darüber im Klaren, dass Sie durch mich – was auch immer ich aufdecken werde – im besten Fall einen Mitwisser mehr haben werden.«
»Und im schlechtesten?«
»Tja.«
»Ich
musste
es jemandem erzählen.«
Er beugte sich vor und sah mich intensiv an. »Herr Winther. Ich dachte damals, dass es nichts Schlimmeres gäbe, als ein Junkie zu sein, einer, der ohne Stoff nicht mehr leben mag und kann. Aber jetzt bin ich mir da nicht mehr so sicher. Ich will versuchen, Ihnen zu helfen. Ich sagte Ihnen ja bereits, dass ich von früher noch gewisse
Freunde
habe – na ja, vielleicht sind es auch nur Kontakte.« Hürli legte eine Pause ein und runzelte die Stirn.«Was genau wissen Sie über den ›Fremden‹?«
Ich dachte kurz nach. »Nichts«, sagte ich.
»Das ist ja, um es mal positiv auszudrücken, nicht gerade viel.«
Es war davon auszugehen, dass »der Fremde« mich bis zum 25. im Auge behalten würde. Da ich keine Telefonnummer von ihm hatte und auch sonst nicht wusste, wie ich mit ihm in Kontakt treten konnte, beschlossen wirFolgendes: Hürli sollte mich beobachten. So könnten wir feststellen, ob ich tatsächlich durch einen dieser Typen beschattet wurde. In diesem Fall sollte ich ihn abpassen, um ein nochmaliges Treffen mit dem »Fremden« zu arrangieren. Hürli würde schließlich versuchen, Fotos von all diesen Gestalten zu schießen. Und so würde es uns vielleicht gelingen, in Erfahrung zu bringen, mit wem ich es da überhaupt zu tun hatte.
Ich fand Wolf Wenzlow an seinem Schreibtisch. Wenzlow machte oft Überstunden, obwohl von »Überstunden« im eigentlichen Sinne gar nicht die Rede sein konnte. Die Zeit, die er in der Firma verbrachte, ließ sich nicht mehr von seiner Freizeit unterscheiden. Seit dem Tod seiner Frau Gertrud vor sechs Jahren hatte er sich komplett den Belangen der Firma verschrieben; so zumindest hatte ich es mir nach den vereinzelt aufgeschnappten Bemerkungen anderer Mitarbeiter zusammengereimt.
Wenzlow war sichtlich überrascht, als er mich zur Tür hereinkommen sah. Natürlich konnte ich davon ausgehen, dass sämtliche Kollegen längst Bescheid wussten über Anouk. Manche Informationen bahnten sich immer wie von selbst ihre Wege. Auch bei Stromausfall.
Etwas steif und sichtlich unangenehm berührt erhob sich Wenzlow. Er schien nicht recht zu wissen, was er sagen sollte, dann begann er: »Ich habe gehört, was passiert ist. Es tut mir unendlich leid.«
Ich quittierte seine Anteilnahme mit einem leichten Kopfnicken und beschloss, nicht lange drum herum zu reden. »Herr Wenzlow, ich muss Sie etwas fragen. Es gibt da etwas, was ich nicht ganz verstehe. Diese Sache damals mit Giaconuzzi. Sie sagten, es sei bekannt gewesen, dass er bei uns auf dem Gelände übernachtet hat.«
Wenzlow nickte. »Na ja, es ist halt vorgekommen, zwei- oder dreimal, glaube ich.«
»Und wir haben damals auf eine Anzeige verzichtet?«
»Ganz richtig.«
»Ja, aber warum?«
Wenzlow räusperte sich. »Nun, weil Sie es so wollten.«
»Ich? Aber warum das denn?«
»Giaconuzzi tat Ihnen wohl irgendwie leid.«
»Ach so? Ja, aber war das Mitleid denn nicht fehl am Platz? Man sieht ja, was daraus geworden ist. Ehrlich gesagt, ich verstehe das nicht.«
Wenzlow räusperte sich erneut. Dann beugte er sich über einen Stapel Papiere. Er griff nach dem obersten Blatt und legte es auf einen anderen Stapel. Mir fiel auf, dass er versuchte, sich überaus ruhig und konzentriert zu geben.
So behutsam wie möglich fragte ich: »Gibt es da etwas, was ich nicht weiß, aber wissen sollte?«
Vor dem Fenster stand sie, meine unerschütterliche Ulme. Ich setzte mich.
Wenzlow setzte sich mir gegenüber, holte tief Luft und sagte: »Ich nehme an, es liegt an Ihrem Problem.«
»Was meinen Sie denn damit? Was für ein Problem hatte ich? Ober habe ich es noch immer?«
Wenzlow ging nicht auf meinen flapsigen Tonfall ein. Man sah deutlich,
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