Der Angriff
einen gewissen Einblick in das Denken von islamischen Fundamentalisten gegeben – und seither wusste sie, dass die Verhaltensweisen dieser Leute selbst für die Tochter eines Chicagoer Polizisten nur schwer zu verstehen waren. In den Augen dieser Geiselnehmer war eine Frau nicht mehr als ein Stück Vieh, also etwas, das man als persönlichen Besitz betrachtete. Frauen, die noch dazu »ungläubig« waren, galten als unrein und böse und wurden dementsprechend als Freiwild betrachtet.
Was für ein erster Tag im neuen Job, dachte sie sich. Sie hatte sich so darauf gefreut, dort sein zu können, wo die wichtigen Dinge passierten – und jetzt war sie tatsächlich mitten drin in einem Ereignis, wie es in der ganzen amerikanischen Geschichte noch nie vorgekommen war. Sie strich sich eine Strähne ihres brünetten Haars hinters Ohr und blickte zu einem der Wächter auf. Der Mann drehte sich in ihre Richtung, und sie senkte rasch den Blick. Nur keinen Augenkontakt, sagte sie sich. Nur ja keinen aufmüpfigen Eindruck machen. Schön unauffällig bleiben.
Anna Rielly hatte in den Straßen von Chicago so manche wertvolle Lektion gelernt. Nachdem sie mitten im Herzen der Stadt aufgewachsen war, hatte sie von klein auf auch die Schattenseiten der Gesellschaft kennen gelernt. Ihre Mutter, die als Sozialarbeiterin tätig war, und ihr Vater, ein Cop in Chicago, hatten sehr darauf geachtet, dass ihre fünf Söhne und ihre Tochter mitbekamen, dass das wirkliche Leben ganz anders war als man es im Fernsehen sah. Auf diese Weise hatte die junge Frau einen starken Überlebensinstinkt entwickelt. Vor einigen Jahren in Chicago hatte ihr das wahrscheinlich das Leben gerettet, und nun in Washington hoffte sie, dass sie wieder davonkommen würde.
Anna Rielly hatte bereits ihren gesamten Schmuck und so viel wie möglich von ihrem Make-up entfernt. Sie wusste, dass sie möglichst wenig Aufmerksamkeit erregen durfte. Zwei Männern hatte man bereits die Nase aufgeschlitzt, und eine Frau war mit solcher Wucht ins Gesicht geschlagen worden, dass sie aus dem Ohr blutete. »Schön unauffällig bleiben«, sagte sich Anna Rielly immer wieder, »dann kommst du vielleicht lebend hier raus.«
Ihr neuer Kollege Stone Alexander, der neben ihr saß, schlug sich hingegen nicht ganz so tapfer. Seit der Anschlag begonnen hatte, war er nicht mehr von ihrer Seite gewichen. Nicht dass er sie hätte beschützen wollen – eher war es umgekehrt. Alexander beugte sich näher zu ihr und fragte: »Wie lange werden sie uns denn hier festhalten?«
Ohne die Lippen zu bewegen, flüsterte Anna: »Ich weiß nur eins: Wenn Sie nicht aufhören zu reden, dann kommt gleich einer der Kerle herüber und gibt Ihnen mit dem Gewehrkolben eins auf Ihre hübsche Nase … Also, zum letzten Mal – halten Sie den Mund.«
Alexander zuckte zusammen und ließ den Kopf in seine gefalteten Hände sinken. Zweimal hatte er schon geweint. Wie erbärmlich, dachte Anna bei sich. Ihr Vater hatte oft gesagt, dass sich das wahre Gesicht eines Menschen in einer Krise zeige. Alexanders wahres Gesicht war jedenfalls nicht gerade das eines Helden.
Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, dass ein Mann den Raum betrat, den sie vorher noch nicht gesehen hatte. Er sah anders aus als die anderen. Zwar trug er den gleichen grünen Kampfanzug, aber sein Haar war sorgfältig gestylt, und er hatte auch keinen Bart. Eigentlich sah er ziemlich gut aus.
Plötzlich fiel ihr ein, wer er war. Das war der Mann, den Russ Piper ihr vorgestellt hatte. Irgendein Prinz Soundso. Oh, mein Gott, dachte Anna. Wo ist Russ? Mit gesenktem Kopf blickte Anna in die Runde, um zu sehen, ob der Freund ihrer Eltern auch hier war. Doch sie konnte Piper nirgends entdecken.
Anna blickte erneut zu dem Fremden hinüber. Dieser Mann musste der Anführer sein. Man erkannte es daran, wie die anderen mit ihm sprachen. Als er den Raum betreten hatte, schienen die anderen Terroristen noch aufmerksamer zu werden. Der kahlköpfige Typ, den Anna ursprünglich für den Anführer gehalten hatte, trat zu dem Prinzen und flüsterte ihm etwas ins Ohr, worauf sich dessen Gesichtsausdruck deutlich veränderte.
Rafik Aziz’ Stimmung schwankte irgendwo zwischen Zuversicht und Wut. Als Muammar Bengazi ihm etwas ins Ohr flüsterte, begann sich die Wut durchzusetzen. »Wo ist er?«, rief er zornig.
Bengazi zeigte auf eine der Geiseln – einen Mann, der am Rand der Gruppe hockte – und folgte Aziz, der wütend zu dem Betreffenden hinüberging. Aziz
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