Der Angstmacher
ein Gesicht.
Für einen winzigen Augenblick stand es da. Eine verzerrte Fratze, etwas grünlich schimmernd und gleichzeitig so aussehend, als wäre das Gesicht von oben nach unten durch dünne Messerstiche geteilt worden, wobei die Zwischenräume zusammenliefen und wieder auseinanderzitterten, bis die Schwingungen der Saiten aufhörten. Sally atmete tief ein. Sie wußte genau, daß sie das Böse innerhalb der Harfe gesehen hatte, doch sie persönlich empfand es nicht so. Das Gesicht gehörte zu einem anderen, der viel, viel älter war als sie, der gelebt hatte, als von Menschen noch nicht die Rede war, obwohl die Welt damals schon in Gut und Böse aufgeteilt worden war. Das Gesicht hatte einen Namen und bekam manchmal auch eine Gestalt hinzugefügt. Schaazar hieß es…
Er war ein Geist, ein Dämon, der einmal hatte Macht ausüben wollen, jedoch an einem Stärkeren gescheitert war. Jetzt hatte er die Chance bekommen und einen Weg gefunden, um sich zu zeigen. Er verbreitete Angst und Schrecken. Er war grausam, er vernichtete, er tötete, doch nicht die Person, die ihm zugetan war.
Für Sally Saler war Schaazar so etwas wie ein Schutzengel. Der Angstmacher bereitete ihr keinerlei Furcht. Er liebte sie, er war stets bei ihr, und er würde sie gegen alle Feinde verteidigen, die ihr etwas wollten. Er ließ sich von ihr führen. Wenn sie eine bestimmte Melodie spielte, dann kam er und verteidigte sie. Er war nicht zu stoppen, sein Gesicht verbreitete den Schrecken, die Angst, die sich zu einer wahren Todesfurcht steigerte und mit dem Abschied vom Leben endete. Wie bei Sallys Mutter…
Seltsamerweise hatte sie nach ihrer Flucht kaum einen Gedanken an sie verschwendet. Für sie war die Harfe wichtiger und natürlich Schaazar, der ihr viel mehr geben konnte. Sie würden ein Paar sein, nicht so, wie es sich die Menschen vorstellten, ganz anders. Wobei jeder allerdings sicher sein konnte, daß der andere ihn nicht verließ. Wieder wollte sie über die Saiten zupfen und sie streicheln, als sie plötzlich das Pochen an der Tür hörte.
Die Hand blieb in der Bewegung stehen. Das Gesicht der Zwanzigjährigen nahm einen ärgerlichen Ausdruck an. Sie hatte den übrigen Musikern gesagt, daß sie allein bleiben wollte, aber dies wiederum wurde wohl nicht von allen akzepiert.
Sicherlich war es dieser Jens Andersen, der junge Mann aus Kopenhagen, der sie schon vor einigen Stunden hatte anmachen wollen. Sally überlegte, ob sie antworten sollte, doch der Klopfer ließ nicht nach und pochte weiter gegen die Tür. »Ja…«
Die Klinke bewegte sich nach unten. Zunächst vorsichtig, dann ruckartig schob jemand die Tür auf und blieb grinsend auf der Schwelle stehen. Iis war tatsächlich Jens Andersen.
»Hallo, Süße«, redete er das Mädchen in seiner Heimatsprache an. »Da bin ich.«
»Das sehe ich.«
»Darf ich reinkommen?«
»Nein!«
Der junge Musiker aus Dänemark kümmerte sich nicht darum. Er betrat das Zimmer, schloß die Tür und kümmerte sich auch nicht um Sallys widerwilligen Gesichtsausdruck.
Jens Andersen war groß und wirkte schlaksig. Er spielte hervorragend Klarinette, war aber sonst in den Augen des Mädchens ein mieser Typ. Das blonde Haar trug er wie einen Helm. Im Nacken fiel es länger. Die Pupillen wirkten blaß wie blaugraues Glas. Er hatte eine Stupsnase und einen breiten Mund. Bekleidet war er mit einem grünen Hemd und einer karierten Hose.
»Was willst du?«
Jens setzte sich und deutete auf die stehende Sally. »Dich!«
»Ha, ha.«
»Ja, ich wollte dich holen. Wir machen unten eine kleine Fete, da solltest du dabeisein.«
»Ich will aber nicht.«
»Es gibt auch Alkohol. Bier in Mengen. Dazu Schnaps, den haben wir eingeschmuggelt.«
Sally blieb hart. »Ohne mich.«
»Dann bist du die einzige, die sich ausschließt.«
»Euer Pech.«
Jens gab nicht auf. Er schlug die Beine übereinander und fragte: »Was ist der Grund?«
»Ich habe keine Lust.«
Der junge Mann grinste breit. »Mit der Lust, weißt du, ist das so etwas. Die kann man bekommen.« Sein Blick glitt an Sallys gut proportionierter Gestalt entlang. »Sogar auf verschiedene Dinge.«
»Das weiß ich, aber ich will trotzdem nicht.«
»Weshalb stellst du dich so an?«
»Ich muß auch noch üben!«
Andersen drehte sich auf dem Stuhl um. »Auf diesem komischen Ding da, das sich Harfe nennt?«
»So ist es.«
»Wie kann man das nur spielen! Verstehe ich nicht.« Er streckte den rechten Arm aus. Noch bevor Sally eine Warnung rufen
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