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Der Anschlag - King, S: Anschlag

Der Anschlag - King, S: Anschlag

Titel: Der Anschlag - King, S: Anschlag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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hatten) waren stark. Wir benutzten sie dazu, Lastwagenmotoren herauszuheben und Schwerverbrecher an Armen und Beinen zu fesseln. Das galt nicht mehr für die Realität, wie ich sie verstand. Ereignisse sind ganz schön labil, sie sind Kartenhäuser, und hätte ich mich Oswald genähert oder gar versucht, ihn von einem Verbrechen abzubringen, das er noch nicht einmal geplant hatte, hätte ich meinen einzigen Vorteil verspielt. Der Schmetterling würde die Flügel ausbreiten, und Oswalds Kurs würde sich ändern.
    Die Veränderungen würden anfangs vielleicht nur klein sein, aber »from small things, baby, big things one day come«, wie es in einem Song von Bruce Springsteen hieß. Sie mochten gute Änderungen sein, die den Mann, der gegenwärtig noch der Junior Senator aus Massachusetts war, retten würden. Aber das glaubte ich nicht. Weil die Vergangenheit unerbittlich war. Im Jahr 1962, das hatte Al in einer hingekritzelten Randnotiz festgehalten, würde Kennedy an der Rice University in Houston eine Rede über den Mond halten. Freiluftauditorium, kein Panzerglas vor dem Rednerpult, hatte Al geschrieben. Houston lag weniger als dreihundert Meilen von Dallas entfernt. Was war, wenn Oswald beschloss, den Präsidenten dort zu erschießen?
    Oder wenn Oswald genau das war, was er zu sein behauptete: ein Sündenbock? Was war, wenn ich ihn aus Dallas verscheuchte, sodass er nach New Orleans zurückkehrte, und Kennedy trotzdem als Opfer irgendeiner verrückten CIA - oder Mafiaverschwörung starb? Würde ich den Mut haben, ein weiteres Mal durch den Kaninchenbau zurückzukehren und alles noch mal von vorn zu beginnen? Die Familie Dunning noch mal retten? Carolyn Poulin noch mal retten? Ich hatte schon fast zwei Jahre für diese Aufgabe geopfert. Würde ich bereit sein, weitere fünf zu investieren, auch wenn das Ergebnis so unsicher war wie je zuvor?
    Das wollte ich lieber nicht herausbekommen müssen.
    Ich wollte lieber auf Nummer sicher gehen.
    Auf der Fahrt von New Orleans nach Texas hatte ich mir überlegt, dass die beste Möglichkeit, Oswald zu überwachen, ohne ihm in die Quere zu kommen, vermutlich darin bestünde, in Dallas zu leben, während er in der Schwesterstadt Fort Worth war, und dann nach Fort Worth umzuziehen, sobald Oswald mit seiner Familie nach Dallas kam. Die Idee hatte den Vorzug, einfach zu sein, aber sie würde nicht funktionieren. Das erkannte ich in den Wochen, nachdem ich zum ersten Mal das Schulbuchlager von Texas betrachtet und dabei das starke Gefühl gehabt hatte, dass es – wie Nietzsches Abgrund – meinen Blick erwiderte.
    Ich verbrachte den August und September dieses Präsidentschaftswahljahres damit, mit meinem Sunliner auf Wohnungssuche durch Dallas zu fahren (wobei ich mein Navi selbst nach so langer Zeit schmerzlich vermisste und oft halten musste, um nach dem Weg zu fragen). Nichts gefiel mir. Anfangs dachte ich, das läge an den Wohnungen selbst. Doch als ich die Stadt besser zu verstehen begann, merkte ich, dass es an mir lag.
    Die schlichte Wahrheit war, dass ich Dallas nicht mochte, und acht Wochen intensiven Studiums genügten, um mich davon zu überzeugen, dass es hier vieles gab, was man nicht mögen konnte. Die Zeitung Times Herald (von vielen Einheimischen gewohnheitsmäßig Slimes Herald genannt) war ein langweiliger Moloch, der billigsten Lobbyismus betrieb. Die Morning News geriet ins Schwärmen und schrieb darüber, wie Dallas und Houston sich »in einem Wettrennen zum Himmel« befänden, aber die Wolkenkratzer, von denen der Leitartikel sprach, waren eine Insel architektonischer Belanglosigkeit, ringförmig umgeben von etwas, was ich für mich den Großen Amerikanischen Flachkult nannte. Die Zeitungen ignorierten die Slums, in denen die Segregation entlang der Rassengrenzen erst ein wenig aufzuweichen begann. Weiter außerhalb gab es endlose Mittelstandswohnsiedlungen, deren Häuser überwiegend Veteranen aus dem Zweiten Weltkrieg und dem Koreakrieg gehörten. Die Veteranen hatten Frauen, die ihre Tage damit verbrachten, die Möbel mit Pledge zu pflegen und ihre Wäsche in Maytags zu waschen. Die meisten hatten zweieinhalb Kinder. Teenager mähten den Rasen, stellten den Slimes Herald auf Fahrrädern zu, pflegten die Familienkutsche mit Turtle Wax und hörten mit Transistorradios (heimlich) Chuck Berry.
    Jenseits der Vorortsiedlungen mit ihren kreisenden Rasensprengern lagen weite Flächen Ödland. Hier und da versorgten fahrbare Bewässerungsanlagen noch

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