Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Anschlag - King, S: Anschlag

Der Anschlag - King, S: Anschlag

Titel: Der Anschlag - King, S: Anschlag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
Vom Netzwerk:
Schätzchen«, sagte sie. »Beruhig dich erst mal, bevor du …«
    Er raffte sein weit herunterhängendes Hemd hoch. Der mit Perlmutt eingelegte Griff einer Pistole – viel kleiner als der Revolver, den ich bei Machen’s Sporting Goods gekauft hatte, eigentlich nur ein Spielzeug – lag an dem blassen Fett, das über den Bund seiner gürtellosen Gabardinehose quoll. Der Reißverschluss stand halb offen, und ich konnte Boxershorts mit aufgedruckten roten Renn autos sehen. Das weiß ich noch. Er zog die Waffe, setzte sie der Nutte an den Bauch und drückte ab. Es gab einen dämlichen kleinen Knall, als detonierte ein kleiner Feuerwerkskracher in einer Blechdose, mehr nicht. Die Frau schrie auf, dann sank sie auf den Gehsteig und hielt sich mit verschränkten Händen den Bauch.
    »Du hast mich angeschossen! « Sie wirkte eher empört als verletzt, aber zwischen ihren Fingern quoll bereits Blut hervor. »Du hast mich angeschossen, du blöder kleiner Scheißer, warum hast du mich angeschossen? «
    Ohne sie weiter zu beachten, riss der Kerl die Tür vom Desert Rose auf. Ich stand weiter dort, wo ich gestanden hatte, als er auf die hübsche junge Nutte geschossen hatte – teils weil ich vor Schock wie gelähmt war, aber vor allem weil das alles nur Sekunden gedauert hatte. Vielleicht länger, als Oswald brauchen würde, um den Präsidenten der Vereinigten Staaten zu ermorden, aber nicht viel.
    »Ist es das, was du willst, Linda?«, schrie er. »Wenn du das willst, sollst du’s kriegen!«
    Er setzte sich die Pistolenmündung ans Ohr und drückte ab.
    12
    Ich legte mein Taschentuch zusammen und presste es vorsichtig auf das Loch in dem roten Kleid des jungen Mädchens. Ich wusste nicht, wie schwer sie verletzt war, aber sie war munter genug, um einen gleichmäßigen Strom farbenprächtiger Ausdrücke von sich zu geben, die sie vermutlich nicht von ihrer Mutter gelernt hatte (andererseits, wer weiß?). Und wenn ein Mann in der wachsenden Schar von Neugierigen ihr etwas zu nahe kam, fauchte sie: »Hör auf, mir unter den Rock zu schielen, neugieriger Dreckskerl. Dafür zahlst du.«
    »Der arme alte Scheißer ist mausetot«, bemerkte irgendjemand. Er kniete neben dem Mann, der aus dem Desert Rose geflogen war. Eine Frau begann zu kreischen.
    Näher kommende Sirenen – auch sie kreischten. Mein Blick fiel auf eine der anderen Damen, die mich bei meinem Spazier gang auf der Greenville Avenue angesprochen hatten: eine Rothaa rige in Caprihosen. Ich winkte sie heran. Sie berührte mit einer fragenden Geste ihre Brust, und ich nickte. Ja, Sie. »Drücken Sie das Taschentuch hier auf die Wunde«, wies ich sie an. »Versuchen Sie, die Blutung zu stoppen. Ich muss weiter.«
    Sie bedachte mich mit einem verständnisvollen kleinen Lächeln. »Sie wollen nicht auf die Polizei warten?«
    »Lieber nicht. Ich kenne keinen der Leute hier. Ich bin nur zufällig vorbeigekommen.«
    Die Rothaarige kniete sich neben das blutende, schimpfende Mädchen auf dem Gehsteig und drückte das blutgetränkte Taschentuch auf die Einschusswunde. »Schätzchen«, sagte sie zu mir. »Sind wir das nicht alle?«
    13
    In dieser Nacht konnte ich nicht schlafen. Ich nickte ein und sah Ray Mack Johnsons ölig verschwitztes, selbstzufriedenes Gesicht vor mir, wie er zweitausend Jahre Sklaverei, Mord und Ausbeutung darauf zurückführte, dass irgendein Teenager sich angesehen hatte, was sein Alter zwischen den Beinen hatte. Ich schreckte hoch, sank wieder zurück, dämmerte weg … und sah den kleinen Mann mit der halb offenen Hose vor mir, der sich die Mündung seiner verdeckt getragenen Pistole ans Ohr setzte. Ist es das, was du willst, Linda? Ein letzter Ausbruch von Bockigkeit vor dem großen Schlaf. Und wieder schreckte ich hoch. Beim nächsten Mal waren es Männer in einer schwarzen Limousine, die einen Molotowcocktail durchs Wohnzimmerfenster meines Häuschens in Sunset Point warfen: Eduardo Gutierrez, der seinen Yanqui aus Yankeeland beseitigen wollte. Weshalb? Weil er nicht gern verlor, das war alles. Ihm genügte das als Grund.
    Schließlich gab ich auf und setzte mich ans Fenster, an dem das Klimagerät tapfer vor sich hin ratterte. In Maine würde die Nacht so kalt sein, dass sich das Laub verfärbte, aber hier in Dallas hatten wir um halb drei Uhr morgens noch 22 Grad. Und hohe Luftfeuchtigkeit.
    »Dallas, Derry«, sagte ich, während ich in den stillen Graben der Commerce Street hinabsah. Der Klinkerwürfel des Schulbuchlagers war nicht zu sehen, aber

Weitere Kostenlose Bücher